Geschichtenarchiv

Blinder Passagier

Das Auflisten meiner Vätergeschichten macht mir bewusst, wie oft ich meinen Vater als Kind in seinem Element erleben durfte: als Alpinist, Geigenspieler, Kunstliebhaber oder Forscher. Durch seine wissenschaftliche Tätigkeit war er oft absorbiert, teilweise abwesend, auch in den Ferien. So folgte uns jeden Sommer ein blinder Passagier an unseren Ferienort und beanspruchte einen Grossteil seiner Aufmerksamkeit. Ob Aristoteles, Platon, Thomas von Aquin oder Donato Giannotti: Alle waren sie irgendwann zu Gast und haben uns mitgeprägt. Nur Freddie Mercury oder John Lennon waren leider nie dabei.

  • Sohn: 1965, Ferienkind
  • Vater: 1935, Staatsphilosoph
  • Jahre der Szene: 70er-Jahre

Rollenwechsel

Unsere beiden Töchter haben im Zwischenjahr nach der Matura je ein halbjähriges Volontariat im fernen Ausland gemacht, die eine in Kambodscha, die andere in Südafrika. Zum Ende des Volontariats war es mir vergönnt, die Töchter an ihrem Ort zu besuchen, das Land zu bereisen und gemeinsam nach Hause zu fahren. Nie hätte ich gedacht, dass ich in meinem Leben mal in den fernen Osten oder an die Südspitze Afrikas komme. Für mich ein eindrücklicher Rollenwechsel: In jungen Jahren haben wir Eltern unsere Kinder in die Welt geführt. Mit dem Erwachsenwerden eröffnen nun sie uns neue faszinierende Welten. Ich habe Mut gebraucht, mich darauf einzulassen, von den Töchtern „an der Hand genommen zu werden“. Es hat sich gelohnt. Ich habe die gemeinsame Zeit in der Fremde sehr genossen. Das bleibt fürs Leben.

  • Vater: 1967, Weltenentdecker
  • Töchter: 1998 und 2001, Welteneröffnerinnen
  • Jahr der Szenen: 2017 und 2022

Dr Bueb chunnt hei

Mutter liegt im Sterben. Jetzt, in der letzten Phase ihres Lebens, wurde die Pflege zuhause unmöglich. Mein Vater ist mit seinen Kräften am Ende. Darum der schmerzliche Entscheid, die Frau, mit der er sein ganzes langes Leben verbracht hat, in ein Sterbehospiz zu geben. Ein paar Tage später besuche ich ihn zuhause. Ich klingle an der Türe. Nach einiger Zeit kommt mein Vater und sucht umständlich den Schlüssel. Dabei singt er fortwährend, völlig beschwingt, die immer gleiche Zeile: „Dr Bueb chunnt hei, dr Bueb chunnt hei, dr Bueb chunnt hei…“ Das hat mich sehr berührt. ich habe meinen Vater zum ersten Mal in meinem Leben singen gehört und zum ersten Mal in meinem Leben eine unmittelbare emotionale Reaktion auf mein Kommen erfahren.

  • Sohn: 1960, Kommunikationstrainer
  • Vater: 1935, Ingenieur
  • Jahr der Szene: 2022

 

Insel der Ruhe

Zu Weihnachten habe ich mir Zeichnungs-Zubehör gewünscht. Mein erstes Projekt war dann ein Porträt-Bild meines Vaters. Noch heute kann ich das Bild vor mir sehen: Vater in seinem bequemen Sessel, die Füsse hochgelagert, die Rückenlehne schräggestellt. Ich weiss gar nicht, ob er bemerkte, dass ich ihn zeichnete. Er war da, hat vielleicht nachgedacht oder geträumt oder sogar versucht, an nichts zu denken. Er hatte in seinem Leben viel Stress, war täglich 12 Stunden unterwegs. Wenn er dann nach Hause kam, wollte er seine Ruhe haben. In diesem Sessel hatte er seine Ruhe gefunden.

  • Tochter: 1980, Assistentin
  • Vater: 1952, Buchhalter
  • Jahr der Szene: 1993

Vaters erste Fahrstunde

Mit drei Berufen und fünf Kindern war mein Vater ein vielbeschäftigter Mann. Um die ganze Arbeit als Landwirt zu bewältigen, musste eine Arbeitshilfe her: ein Traktor „Hanomag R12“, eine Art „Ackermoped“ mit gewöhnungsbedürftigem Klang. Da der Führerschein meines Vaters nicht rechtzeitig eintraf, half ein Bekannter aus. Zu zweit fuhren sie aufs Feld, um den Acker zu bearbeiten – Vaters erste Fahrstunde. Wenig später zog Vater mit dem Hanomag Runde um Runde. Nach getaner Arbeit war kein Fahrlehrer mehr zu sehen. „Mit der heutigen Fahrpraxis kann ich auch nach Hause fahren“, sagte sich mein Vater und machte sich auf den Heimweg. Alles ging gut, bis aufs Anhalten vor dem Garagentor, das war noch nicht geübt. Vater fuhr den Hanomag R12 mit der vorderen Anhängerkupplung vor das hölzerne Garagentor – mehrfach vor und zurück. Mit tränenden Augen beobachtete ich die Szene vom Küchenfenster aus. Das Loch im Garagentor ist bis heute eine bleibende Erinnerung an die erste Fahrstunde meines Vaters.

  • Vater: 1903. Schlosser, Landwirt, Brennstoffhändler.
  • Sohn: 1944. Elektrotechniker.
  • Jahr der Szene: 1955

«O Tannenbaum»

Mein Vater hatte es nicht einfach. Als Heimkind aufgewachsen, später in der französischen und spanischen Fremdenlegion, jahrelang nierenkrank. Oft war es schwierig zwischen uns, gegenseitig haben wir aneinander gelitten. Je älter ich werde, desto mehr sehe ich aber, was ich von meinem Vater gelernt habe: Schwimmen zum Beispiel, die Liebe zur Natur, aber auch seine christlichen Werte und seine Weltoffenheit. Ein Moment ist mir besonders geblieben: Als mein Vater an der öffentlichen Weihnachtsfeier auf dem Dorfplatz aus ganzem Herzen «O Tannenbaum» mitgesungen hat. Vorher und nachher habe ich ihn nie singen gehört. Ein Moment, der alle schwierigen Momente überstrahlt.

  • Tochter: 1944, Kaufmännische Angestellte
  • Vater: 1917-1989, Hilfsarbeiter
  • Jahr der Szene: 1951