Grundidee
„Vätergeschichten“ besteht aus Fingerabdrücken von Vater-Kind-Beziehungen. (Corinne Bromundt, Illustratorin)
Im Auftrag von FamOS (Familien Ost-Schweiz) und männer.ch entwickelte Mark Riklin, Begründer der „Meldestelle für Glücksmomente“, anlässlich des 6. Vätertags 2012 das Projekt “Vätergeschichten“: Männer, Frauen und Kinder erzählten in öffentlichen Schreibstuben und ausgewählten Unternehmen von ihren Erinnerungen an ihre Väter, Grossväter oder an ihr Vatersein. Bis zum Vätertag 2013 ist ein Archiv aus 200 Szenen entstanden. “Vätergeschichten“ ist auf mehrere Jahre angelegt und verfolgt den Ansatz Väterlichkeit sowohl in der Öffentlichkeit als auch in Betrieben an kleinen Geschichten zu veranschaulichen. Dadurch soll ein Gegenpol zur problemorientierten Darstellung von Väterlichkeit entstehen. Biografische Erinnerungen korrigieren stereotype Bilder, zeigen die Vielfalt von Väterlichkeit und regen an, sich Zeit fürs Vatersein zu nehmen.
Aus dem Geschichtenarchiv
Gschichtlichopf
„Hets no es Gschichtli im Gschichtlichopf?“ So lautete der Code, kombiniert mit einem sanften Klopfen auf die Stirne des Vaters. Die beiden Buben liebten dieses tägliche Ritual, der Vater natürlich auch. „Mhhmm, weiss nid, muess mau ga luege…“ lautete die Antwort, die der Vater immer geben musste. Und oh Wunder, es hatte tatsächlich heute gerade noch eine Geschichte, die unbedingt erzählt werden wollte. Dann kamen abwechslungsweise je zwei Stichworte, die in der Geschichte vorkommen mussten: Feuerwehrauto – Batman – Kaleidoskop – Kaugummi. Oder: Gletscher – Mondrakete – Schneemann – Wolf. Oder…. Jeder der Buben achtete peinlich genau darauf, dass sein Wort in der Geschichte vorkam. Und für Action war immer gesorgt. Dumm nur, wenn sie am Abend darauf die genau gleiche Geschichte noch einmal hören wollten, einfach darum, weil sie so spannend war. Da musste sich der Vater in der Regel helfen lassen oder wurde bei jedem zweiten Satz korrigiert: „Nei, das isch ganz angers gange, nämlech d‘ Prinzässin het dr Polizei aaglüüte u nid umgekehrt!“
Vater: 60, Schauspieler & Regisseur
Söhne: 23 und 25, Grafiker und Innenarchitekt
Jahre der Szene: 1999 bis ca. 2005
Vom Sandkasten zum Weiher
Nach den Ferien in Österreich machen sich mein Vater und ich an die Arbeit. Wir bauen auf dem Gelände des Sandkastens einen Weiher mit Bächlein. Unser Bauplan ist die Erinnerung an den Weiher in Österreich. Meine Mutter ist skeptisch und traut uns das Projekt ohne ordentliche Planung nicht zu. Egal, wir machen es trotzdem. Nach zwei Monaten graben, Material suchen, einkaufen ist es geschafft, unsere Oase ist fertig: ein Weiher mit Bächlein. Ich bin sehr stolz auf unser Bauwerk.
- Sohn: 1977, Sozialarbeiter
- Vater: 1946, Maschinenschlosser
- Jahr der Szene: 1990
- Aufgezeichnet von Michael Hofmann
Ölig-metallischer Geruch
Letzthin habe ich an meiner Arbeitsstelle ein grosses Kreuzrollen-Lager ausgepackt. Beim Entfernen der Kunststoff-Folie entfaltete sich ein ganz spezieller ölig-metallischer Geruch, der augenblicklich intensive Gefühle/Erinnerungen an meinen Vater und meine Jugendzeit aufkommen liess.
Ab und zu holte ich meinen Vater abends von der Arbeit ab. Manchmal zeigte er mir noch ein spezielles Fahrzeug in der Halle oder machte mit mir eine «Tour» durchs Zeughaus, um vor dem Feierabend noch irgendwas in eine andere Abteilung zu bringen, bevor wir uns gemeinsam auf den Heimweg machten.
Jetzt katapultierte mich dieser spezielle Geruch, der dort in der Werkstatt aber auch an meinem Vater und seinen Kleidern hing, in Zehntelsekunden 45 Jahre zurück und ich fühlte wieder den Stolz auf meinen Vater.
- Vater: Automechaniker, Werkstattleiter, 1923-2001
- Sohn: Konstrukteur, z.Zt. Monteur, 1960
- Jahre der Szene: ca. 1970-72
Aktuelles
Nächste Lesung Vätergeschichten: Freitag 12. September 2025 im Integrationszentrum Wier in Ebnat Kappel
Vor einiger Zeit durfte ich im tisg-Integrationszentum Wier in Ebnat-Kappel bei unbegleiteten, minderjährigen Asylsuchenden berührende Vätergeschichten sammeln.
Diese Geschichten darf ich am 12. September 2025 von 19 bis 20 Uhr, anlässlich einer öffentlichen Lesung mit musikalischer Begleitung, im tisg Integrationszentrum Wier in Ebnat Kappel vortragen.
Sie sind alle zur Lesung und zum anschliessenden Apéro herzlich eingeladen!
Beste Grüsse & alles Liebe
Marcel Kräutli
Vätergeschichten-Lesung im Integrationszentrum Wier
Das Vätergeschichten-Feuer weitertragen
Liebe Leser:innen
Zwei Jahre sind es her, seit ich das erste Mal mit dem Archiv für Vätergeschichten in Kontakt kam. Ich durfte eine Vätergeschichtensammlung & -lesung rund um das Fest der Kulturen in St. Gallen organisieren.
Das Thema liess mich seither nicht mehr los. Zum einen beruflich, als Väterberater beim Ostschweizer Verein für das Kind, und zum anderen als Vater und Bezugsperson von drei Kindern, welche ich beim Aufwachsen begleite.
Geschichte und Geschichten begleiten mich, seit ich denken kann. Geschichte war mein Lieblingsfach in der Schule. Ich liebe es noch heute zu lesen und dadurch in andere Welten ein- und abzutauchen.
Ich bin überzeugt, dass das Erzählen von Geschichten – sogar schon vor der Geburt – eine wertvolle Grundlage für die Vater-Kind-Bindung schafft. Es eröffnet auch immer wieder besondere Momente der Zweisamkeit und bereichert damit sowohl das Vater- als auch das Kindsein. Im Wissen, dass das Erzählen von Geschichten bisweilen ziemlich fordern kann. Bei mir zum Beispiel dann, wenn das eine Kind immer genau die eine – wirklich partout keine andere – Geschichte erzählt haben will und auch keine – noch so kleine – Abänderung toleriert. Oder das andere Kind keine vorgelesenen Geschichten akzeptiert und in ihren Worten, «Gschichte usem Muul» (als Begriff für «frei erfundene Geschichten») hören möchte.
Überzeugt davon, dass es nicht die eine Väterlichkeit, sondern eben viele Formen von Väterlichkeit(en) gibt, bin ich beruflich sehr neugierig darauf zu hören, wie Väterlichkeit erinnert wird. Der Frage nachzugehen, ob es generationelle und kulturelle Unterschiede gibt, oder vielmehr herauszufinden, wo die Gemeinsamkeiten liegen, reizt mich.
Darum freue ich mich sehr, das Vätergeschichten-Feuer von Mark Riklin übernehmen zu dürfen.
Ich bin geehrt und dankbar, dieses Feuer weitertragen zu dürfen. Die Glut zu hüten, von Zeit zu Zeit zu schüren und mit neuen, inspirierenden Geschichten lebendig zu halten.
Ich freue mich auf diesen Weg, viele spannende Begegnungen und noch mehr bereichernde Geschichten!
Herzliche Grüße
Marcel Kräutli
Marcel Kräutli ist neuer Leiter des Archivs für Vätergeschichten
Ein Sonntag im Juni 2013. Dicht gedrängt sitzen die Besucher:innen am nationalen Vätertag auf den Fluren der Geburtenabteilung des Spitals Herisau, nachdem sie ihre nassen Regenmäntel an Infusionsständern aufgehängt haben. Ein Schauspieler-Duo liest erstmals ausgewählte Szenen aus dem neu gegründeten Archiv für Vätergeschichten. Als Schauplatz dient eine Wochenbettstation, wo neben Kindern und Müttern auch Väter auf die Welt kommen. Unvergesslich, wie Kindergeschrei aus den Kindern die Lesung akustisch untermalen. 12 Jahre später besteht das Archiv für Vätergeschichten aus über 300 Szenen, die auf eindrückliche Art illustrieren, wie sich das Bild des Vaters im Laufe der Zeit verändert hat. Anfangs Jahr ist die Leitung des Archivs für Vätergeschichten von Mark Riklin auf Marcel Kräutli, Väterberater beim Ostschweizer Verein für das Kind, übergegangen – eine ideale Besetzung, herzlich willkommen!
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