Grundidee
„Vätergeschichten“ besteht aus Fingerabdrücken von Vater-Kind-Beziehungen. (Corinne Bromundt, Illustratorin)
Im Auftrag von FamOS (Familien Ost-Schweiz) und männer.ch entwickelte Mark Riklin, Begründer der „Meldestelle für Glücksmomente“, anlässlich des 6. Vätertags 2012 das Projekt “Vätergeschichten“: Männer, Frauen und Kinder erzählten in öffentlichen Schreibstuben und ausgewählten Unternehmen von ihren Erinnerungen an ihre Väter, Grossväter oder an ihr Vatersein. Bis zum Vätertag 2013 ist ein Archiv aus 200 Szenen entstanden. “Vätergeschichten“ ist auf mehrere Jahre angelegt und verfolgt den Ansatz Väterlichkeit sowohl in der Öffentlichkeit als auch in Betrieben an kleinen Geschichten zu veranschaulichen. Dadurch soll ein Gegenpol zur problemorientierten Darstellung von Väterlichkeit entstehen. Biografische Erinnerungen korrigieren stereotype Bilder, zeigen die Vielfalt von Väterlichkeit und regen an, sich Zeit fürs Vatersein zu nehmen.
Aus dem Geschichtenarchiv
Finger-Tanz
Meine Lehrerin wünschte sich, dass ich Pianist werde. Ich entschied mich aber, das Klavierspielen als leidenschaftliches Hobby zu behalten. Während dem Klavierspielen sass mein Sohn (3) regelmässig auf meinen Knien und wünschte sich den „Appenzellertanz“. Langsam wurde er immer schwerer, bis er irgendwann einschlief. Für mich ein starker Moment in unserer Beziehung. (Später sagte er mir einmal, dass er dieses Stück so liebte, weil aus seiner Perspektive die Finger tanzten.)
- Vater: 1957, Hobbymusiker
- Sohn: 1992, Student
- Jahr der Szene: 1995
Indianerbrot
Es ist dunkel und still in unserem Haus. Alle schlafen. Mein Vater kommt zu mir ins Zimmer und weckt mich. Eine verschwörerische Stimmung. Unser Morgenritual beginnt: Mein Vater nimmt die Handmühle in die Hand, dreht an der Kurbel und malt das Korn. Manchmal darf auch ich. Das Mehl mischen wir mit Wasser und formen daraus eine Kugel. In der Bratpfanne drücken wir den Teig flach. Da ist es, das Indianerbrot. Mit Butter und Honig. Unser Frühstück.
- Sohn: 1977, Pfarrer
- Vater: 1948, Musiker und Gymnasiallehrer
- Jahr der Szene: 1990-1993
Versöhnung ohne Worte
Sommer 1986. In den Semesterferien machte ich zuhause meinen Eltern gegenüber einen derben Spass, der sie erschreckte. Mein Vater reagierte reflexartig und gab mir eine schallende Ohrfeige. Geschlagen hat er uns sechs Kinder einige Male, das gehörte dazu. Aber dies war einer zu viel. Fluchtartig verliess ich dieses Daheim mit einem Auto eines älteren Herren, der mir dieses anvertraut hatte. Zuerst tauchte ich bei der Grossmutter meiner Freundin unter, danach bei einem Studienkolleg auf dem Bauernhof. Irgendwann tauchte ich Ende Ferien wieder bei meiner Familie auf, aber nur um die Sachen zu packen und mein Studium fortzusetzen.
Eines Tages lud mich mein Vater ein zu einer Klettertour auf seinen Lieblingsberg. Wir haben an jenem Tag nicht viel gesprochen. Ich habe ihm voll vertraut, obschon er schon lange nicht mehr klettern ging. Ich habe verstanden, was er mir mit diesem Tag sagen und schenken wollte: Versöhnung ohne Worte. Als er dann 2016 im Sterben lag, war ich als Letzter bei ihm, ‘amazing grace’ habe ich gesummt, «alles ist Gnade, alles ist Geschenk». Mein Vater hat leicht reagiert, ist ganz ruhig geworden und eine Viertelstunde, nachdem ich gegangen bin, friedlich gestorben.
- Sohn: 1962, Theologe
- Vater: 1936 – 2016, Dreher
- Jahr der Szene: 1986
Aktuelles
Nächste Lesung Vätergeschichten: Freitag 12. September 2025 im Integrationszentrum Wier in Ebnat Kappel
Vor einiger Zeit durfte ich im tisg-Integrationszentum Wier in Ebnat-Kappel bei unbegleiteten, minderjährigen Asylsuchenden berührende Vätergeschichten sammeln.
Diese Geschichten darf ich am 12. September 2025 von 19 bis 20 Uhr, anlässlich einer öffentlichen Lesung mit musikalischer Begleitung, im tisg Integrationszentrum Wier in Ebnat Kappel vortragen.
Sie sind alle zur Lesung und zum anschliessenden Apéro herzlich eingeladen!
Beste Grüsse & alles Liebe
Marcel Kräutli
Vätergeschichten-Lesung im Integrationszentrum Wier
Das Vätergeschichten-Feuer weitertragen
Liebe Leser:innen
Zwei Jahre sind es her, seit ich das erste Mal mit dem Archiv für Vätergeschichten in Kontakt kam. Ich durfte eine Vätergeschichtensammlung & -lesung rund um das Fest der Kulturen in St. Gallen organisieren.
Das Thema liess mich seither nicht mehr los. Zum einen beruflich, als Väterberater beim Ostschweizer Verein für das Kind, und zum anderen als Vater und Bezugsperson von drei Kindern, welche ich beim Aufwachsen begleite.
Geschichte und Geschichten begleiten mich, seit ich denken kann. Geschichte war mein Lieblingsfach in der Schule. Ich liebe es noch heute zu lesen und dadurch in andere Welten ein- und abzutauchen.
Ich bin überzeugt, dass das Erzählen von Geschichten – sogar schon vor der Geburt – eine wertvolle Grundlage für die Vater-Kind-Bindung schafft. Es eröffnet auch immer wieder besondere Momente der Zweisamkeit und bereichert damit sowohl das Vater- als auch das Kindsein. Im Wissen, dass das Erzählen von Geschichten bisweilen ziemlich fordern kann. Bei mir zum Beispiel dann, wenn das eine Kind immer genau die eine – wirklich partout keine andere – Geschichte erzählt haben will und auch keine – noch so kleine – Abänderung toleriert. Oder das andere Kind keine vorgelesenen Geschichten akzeptiert und in ihren Worten, «Gschichte usem Muul» (als Begriff für «frei erfundene Geschichten») hören möchte.
Überzeugt davon, dass es nicht die eine Väterlichkeit, sondern eben viele Formen von Väterlichkeit(en) gibt, bin ich beruflich sehr neugierig darauf zu hören, wie Väterlichkeit erinnert wird. Der Frage nachzugehen, ob es generationelle und kulturelle Unterschiede gibt, oder vielmehr herauszufinden, wo die Gemeinsamkeiten liegen, reizt mich.
Darum freue ich mich sehr, das Vätergeschichten-Feuer von Mark Riklin übernehmen zu dürfen.
Ich bin geehrt und dankbar, dieses Feuer weitertragen zu dürfen. Die Glut zu hüten, von Zeit zu Zeit zu schüren und mit neuen, inspirierenden Geschichten lebendig zu halten.
Ich freue mich auf diesen Weg, viele spannende Begegnungen und noch mehr bereichernde Geschichten!
Herzliche Grüße
Marcel Kräutli
Marcel Kräutli ist neuer Leiter des Archivs für Vätergeschichten
Ein Sonntag im Juni 2013. Dicht gedrängt sitzen die Besucher:innen am nationalen Vätertag auf den Fluren der Geburtenabteilung des Spitals Herisau, nachdem sie ihre nassen Regenmäntel an Infusionsständern aufgehängt haben. Ein Schauspieler-Duo liest erstmals ausgewählte Szenen aus dem neu gegründeten Archiv für Vätergeschichten. Als Schauplatz dient eine Wochenbettstation, wo neben Kindern und Müttern auch Väter auf die Welt kommen. Unvergesslich, wie Kindergeschrei aus den Kindern die Lesung akustisch untermalen. 12 Jahre später besteht das Archiv für Vätergeschichten aus über 300 Szenen, die auf eindrückliche Art illustrieren, wie sich das Bild des Vaters im Laufe der Zeit verändert hat. Anfangs Jahr ist die Leitung des Archivs für Vätergeschichten von Mark Riklin auf Marcel Kräutli, Väterberater beim Ostschweizer Verein für das Kind, übergegangen – eine ideale Besetzung, herzlich willkommen!
Teilen Sie Ihre Geschichte
„*“ zeigt erforderliche Felder an