Geschichtenarchiv

Wenn der Vater peinlich wird

Pubertät ist, wenn die Eltern peinlich werden. Im vorliegenden Fall betrifft es vor allem den Vater, der die Grenze zur Peinlichkeit immer wieder überschreitet, wenn er mit zu spitzen Schuhen zum Elterngespräch erscheint; Lehrpersonen übertriebene Komplimente macht; beim Adventskaffee den Kaffee verschüttet; oder Wartezeiten auf dem Bahnsteig mit Hampelmann-Machen überbrückt. Was denken wohl die anderen? Ja nicht auffallen, ja nicht von der Norm abweichen, lautet die Devise. Mit steigender Selbstwahrnehmung nimmt auch das Fremdschämen zu. Eltern werden zunehmend zur Gefahr, in die Peinlichkeits-Falle zu geraten.

  • Vater: 1965, Geschichtensammler
  • Töchter: 2007, 2009, kritische Beobachterinnen
  • Jahr der Szene: 2020/21

Das werdende Kind an der Hand

Mit zweiundzwanzig Jahren wurde ich Vater. Das Kind war nicht geplant gewesen, aber wir hatten die Möglichkeit zugelassen, dass eines kommen könnte. Die ersten Monate der Schwangerschaft waren voller Fragen. Konnten wir für ein Kind sorgen? Waren wir, war ich bereit und reif für ein Kind? Ich schrieb lange Seiten in mein Tagebuch, wir führten lange Gespräche auf Waldspaziergängen unter dem grauen Himmel von Februar und März, aber es blieb dabei: Mit dem Kind im Bauch wuchsen unsere Fragen und Unsicherheiten. An einem Abend setzte ich mich wieder an mein Pult und schrieb. Da sah ich mich, wie ich mit meinem Kind an der Hand in die Welt ging. Vor uns war es hell und ich konnte die kleine Hand in meiner spüren. Ich fühlte eine Wärme in mir und ich wusste, dass ich es wagen würde.

  • Vater: 1964, Student
  • Tochter: 1986, unterwegs auf die Erde
  • Jahr der Szene: 1986

Unser Beschützer

Schon als Kind weiss man, dass es Einbrecher gibt, die den Hausfrieden stören. In meinem Elternhaus lag die Wohnung im ersten Stock, im Parterre war der bescheidene Dorfladen eingerichtet. Da könnten Einbrecher schon fündig werden. Eines Nachts werden wir durch laute Geräusche und Gerumpel geweckt. Jetzt sind sie da, die Einbrecher. Was tun? Mein Vater holt das grosse Küchenmesser, stellt sich im Nachthemd wehrbereit ins Treppenhaus und ruft mit lauter Stimme: Wer da? Ich sehe ihn vor mir, als ob es gestern gewesen wäre. Das hat mir grossen Eindruck gemacht: Mein Vater kann uns verteidigen!

  • Sohn: 1943, Lehrer, Verleger
  • Vater: 1914-1994, Käser, Magaziner, Schweinezucht-Berater
  • Jahr der Szene: 1952

Ein Mann, der gerne putzt

Unsere jüngste Tochter (18jährig) ging heute später aus dem Haus, und hat deshalb grad noch miterlebt, wie ich am Putzen war. Freitag ist normalerweise mein Tag, an dem ich zu Hause bin und u.a. das Haus putze, was ich gerne mache. „Ich muss mir auch mal einen Mann zutun, der gerne putzt“, sagte meine Tochter. Ich schmunzelte und meinte: „Ja, mach das, aber schau, dass du nicht gerade mit dieser Frage einsteigst…“

  • Vater: 1967, Theologe, Gewaltberater und Hausmann
  • Tochter: 2001, Praktikantin in der Jugendarbeit und Lehrerin für Asylant*innen
  • Jahr der Szene: 2020

 

Servietten-Bescherung

Adventszeit. Wenn alle in Stress und Hektik verfallen, machte mein „Dad“ das pure Gegenteil: Er nahm sich eine Woche Ferien, um für seine vier Söhne ein eigenes Spiel zu erfinden. Am Weihnachtsabend sassen wir dann auf seinen zwei schwarzen Sofas, teilten uns in zwei Brüder-Teams auf und wetteiferten im Film-Rate-Quiz um Punkte. Nach einem ausgeklügelten Verfahren durften wir je nach Punktestand Geschenke aufdecken, die zwischen den beiden Sofas auf dem Boden unter Servietten versteckt waren. Ein absolutes Highlight und ein maximaler Kontrast zu „Schlauch-Weihnachten“. Seit zwei Jahren sind wir nun zu Brettspiel-Weihnachten übergangen, Fondue Chinoise inklusive. Nochmals eine Steigerung. Vaters Leidenschaft für strategische Spiele ist längst auf seine Söhne übergegangen.

  • Sohn: 1990, Unternehmensentwickler
  • Vater: 1964, Manager, Spielernatur
  • Jahr der Szene: seit 2014

 

Frisch geladene Batterien

„Popi, zugfahre, zugfahre“, begrüsst mich meine zweieinhalb Jahre alte Enkelin strahlend, wenn ich donnerstags vor der Türe stehe, um ihr einen Besuch abzustatten. Wenig später sitzen wir im Zug oder im Postauto, ohne festes Ziel vor Augen. Wir singen „Auf der schwäbsche Eisebahne“ und geniessen die Aussicht, bis meine Enkelin die Thur entdeckt und fragt, ob man da baden könne. Bei der nächsten Station steigen wir spontan aus und suchen uns einen Weg an die Thur. Das ist es, was ich so geniesse: Einfach da sein für das, was sich entwickelt. Ohne zu wissen, wo wir gemeinsam landen. Mit frisch geladenen Batterien komme ich abends nach Hause.

  • Grossvater: 1950, Swissair-Pilot a.D., 9-facher Grossvater
  • Enkelin: 2017, leidenschaftliche Zugfahrerin
  • Jahr der Szene: 2019