Geschichtenarchiv

Der Ring

Meine Hochzeit. Mein Vater hält am Fest eine Ansprache. Das habe ich erwartet, das tut er nicht selten. Plötzlich greift er in seine Kitteltasche und gibt mir etwas. Einen Ring! Es ist der Ring, den mein Vater lange getragen und bereits von seinem Vater erhalten hatte. Diese Symbolik bedeutet mir viel, es berührt mich und erfüllt mich mit Stolz. Den Ring bewahre ich bis heute an einem würdigen Ort auf.

  • Sohn: 1963, Pfarrer
  • Vater: 1930, Kaufmann mit eigenem Geschäft
  • Jahr der Szene: 2000

Znüni-Korb

Mutter weckt mich erst gegen neun. Vater ist am Pflügen, ich soll ihm den Znüni-Korb bringen. Schon von weitem sieht er mich kommen, fährt an den Feldrand, stellt den Motor ab. Wir setzen uns hin – manchmal klettere ich zu ihm auf den Traktor hoch – und essen Brot und Käse. Vater giesst dampfenden Kaffee in den Becher. Ob wir zusammen geredet haben? Er hatte Freude am Znüni, mochte den ruhigen Moment, genoss die Stille. Ich auch. Eine Viertelstunde später bin ich mit dem Korb am Arm unterwegs, zurück nach Hause.

  • Sohn: 1965, Ingenieur
    Vater: 1927, Landwirt
    Jahr der Szene: Anfang der 1970er Jahre

Er hat mich da rausgeholt

Im ersten Familienurlaub in Spanien am Meer gibt es meinen müden Vater nur in zwei Aggregatszuständen; auf dem Strandtuch schlafend oder am Buchlesen. Mitte der Woche mit einem Fangnetz alleine auf der Pirsch nach Getier gerate ich im Wasser plötzlich in Not: hohe Wellen, blutige Knie auf rauen Felsen, Brille verloren, schwimmuntüchtig, in Todesangst und die Eltern weit weg. Absurderweise reagiert meine Mutter auf mein Brüllen mit fröhlichem Winken. Mein Vater erkennt nach längerer Zeit den Ernst der Lage und macht sich auf den Weg. Schwimmend kommt er zu mir und klemmt mich unter den Arm. Zurück am Strand, ins Strandtuch gewickelt, völlig erschöpft auf den Beinen des Vaters gibt es einen seltenen Moment der Nähe.

  • Sohn: 1970, Journalist
  • Vater: 1944, Polizeibeamter
  • Jahr der Szene: 1980

Mao lässt grüssen

1978 war mein Vater mit einer Delegation des Schweizer Parlaments auf einer zweiwöchigen China-Reise. Täglich hat er uns eine Karte geschrieben, die ich bis heute vor mir sehe! Mitgebracht hat er von seiner Reise acht Mao-Mützen, die wir kurz nach seiner Rückkehr auf dem Kronberg getragen haben. Weil wir deswegen von Wanderern angepöbelt wurden, hat sie unsere Mutter stillschweigend entsorgt…

  • Sohn: 1965, Geschichtensammler
  • Vater: 1935, Politikwissenschaftler
  • Jahr der Szene: 1978

Indianerbrot

Es ist dunkel und still in unserem Haus. Alle schlafen. Mein Vater kommt zu mir ins Zimmer und weckt mich. Eine verschwörerische Stimmung. Unser Morgenritual beginnt: Mein Vater nimmt die Handmühle in die Hand, dreht an der Kurbel und malt das Korn. Manchmal darf auch ich. Das Mehl mischen wir mit Wasser und formen daraus eine Kugel. In der Bratpfanne drücken wir den Teig flach. Da ist es, das Indianerbrot. Mit Butter und Honig. Unser Frühstück.

  • Sohn: 1977, Pfarrer
  • Vater: 1948, Musiker und Gymnasiallehrer
  • Jahr der Szene: 1990-1993

Vergessene Erinnerung

Als 27-jähriger Student lebe ich bei meinen Eltern, als mein fast 80-jähriger Vater krank wird und ins Spital muss. Innerhalb einer Woche stirbt er. Über die vielen Jahre schmerzt es mich, dass ich am Sterben meines Vaters nicht mehr Anteil genommen habe. Vater hatte nie viel Zeit für uns acht Kinder gehabt. Bin ich deshalb derart entfernt von ihm geblieben? Jetzt, über 40 Jahre nach Vaters Tod suche ich nach Wissen aus seiner Sterbenszeit. Dabei entdecke ich einen Zettel, auf dem ich meinem Vater Worte des Danks für seine Zuwendung und der Trauer wegen seiner Krankheit ins Spital geschickt habe. Ich lese nach langem wieder das Tagebuch, in das Vater für jedes der Kinder Episoden aus seinem Leben aufgeschrieben hat. Da war gegenseitige Anteilnahme und Nähe, verdeckt durch falsche Erinnerung.

  • Sohn: 1944, Professor der Theologie
  • Vater: 1894, Prediger
  • Jahr der Szene: 1972