Geschichtenarchiv

Klein-Paris

Meine Mutter war mit dem dritten Kind hochschwanger, als mein Vater einen Entlastungversuch vorschlug. Mit mir (5) und meinem Bruder (3) wollte er einen Tages-Ausflug nach Konstanz in die Miniatur-Ausstellung über Frankreich unternehmen, wie er sagte. Meine Mutter freute sich über die gutgemeinte Absicht, über die Art der Idee hingegen wunderte sich. Wie kann man mit Kindern im Kleinkind-Alter ins «Klein-Paris» gehen? Bis heute ist diese Anekdote der Running-Gag in unserer Familie, sobald das Stichwort «Frankreich» fällt. Mein Vater wundert sich noch heute, wie er auf solch eine Idee kommen konnte…

  • Tochter: 1990, Kindergärtnerin, DAZ-Lehrerin.
  • Vater: 1960, Krankenpfleger, Berufsschullehrer.
  • Jahr der Szene: 1994.

Not macht erfinderisch

Ich bin in einer nicht so reichen Familie mit 7 Kindern aufgewachsen, ich auf dem 5. Platz. Wir konnten uns wenig leisten. Deshalb musste ich immer die gleichen schwarzen Schuhe mit einem Klettverschluss tragen. Ich hätte so gerne weisse Turnschuhe mit Schuhbändeln gehabt. «Okay, da machen wir was, um deinen Wunsch zu erledigen», sagte mein Vater eines Tages, nahm die Schuhe in seine Fabrik, schnitt den Klettverschluss ab, stanzte Löcher und kaufte Schuhbändel. «Siehst du, jetzt hast du auch Turnschuhe.» Sie waren nicht perfekt und immer noch schwarz. Und trotzdem war ich sehr happy. Mein Vater hatte meinen Wunsch ernst genommen und im Rahmen seiner Möglichkeiten erfüllt.

  • Sohn: 1982, medizinischer Laborant.
  • Vater: 1955, Fabrikarbeiter.
  • Jahr der Szene: 1993.

Tod im Aquarium

«Tata, die doofen Fische jagen die kleine Garnele!», ruft meine Tochter (7) aus dem Fenster. Drei Minuten später öffnet sich das Fenster erneut: «Tata, sie beissen sie! Komm, wir müssen ihr helfen!!!» Schnell laufe ich die Treppen hoch, meine Tochter steht vor dem Aquarium und schreit panisch: «Schau, sie rupfen ihr die Beine ab, sie kann sich nicht wehren! Wir müssen sie retten!» Ihre Verzweiflung durchfährt meinen Körper wie ein Speer. Die Garnele ist aus unerklärlichen Gründen bereits tot, die niedlichen Neonfische hatten sie offensichtlich aufgefressen. Ein dramatisches Bild für ein kleines Kind. Ich fische die tote Zwerggarnele heraus und lege sie in eine Schale mit Wasser. «Sie ist tot!», erkennt nun auch meine Tochter und weint untröstlich. «Ja, sie ist tot», vermag ich lediglich zu sagen und nehme sie in den Arm. Und bin dankbar und glücklich darüber, dass ich ihr bei diesem tragischen Ereignis beistehen darf.

Vater: 1974, Gewaltberater
Tochter: 2014, Schülerin
Jahr der Szene: 2021

So macht Fussball doppelt Spass

Es ist früh am Morgen, kurz vor 6 Uhr. Dort, wo normalerweise die Büchse mit frisch duftendem Kaffeepulver steht, ist heute gähnende Leere. Erst auf den zweiten Blick bringt mich ein kleiner Hinweis auf die Spur: «1. April» steht auf einem kleinen Papierstreifen. Meine Kinder, 12 und 14 Jahre alt, drehen den Spiess immer mehr um, führen mich an der Nase rum, tauschen mein Gesundheitskissen gegen ein minderwertigeres aus, erfreuen mich aber auch immer wieder mit kleinen Aufmerksamkeiten, wenn sie in meiner Sporttasche eine kleine Stärkung oder die Karte «Viel Spass beim Fussball» verstecken. Eine wunderbare Beziehungsgeste.

  • Vater: 1965, leidenschaftlicher Feierabendkicker
    Töchter: 2007/2009, Streich-Spielerinnen
    Jahr der Szene: 2022

Das Schöne und Gute sehen

Vor kurzem ist meine Mutter verstorben. Zeitlebens hat sie ihren Blick auf das gerichtet, was nicht funktioniert. Nach ihrem Tod hat sie mir ein 30-seitiges Sündenregister vererbt. Da wurde minutiös festgehalten, in welcher Situation ich ihre Erwartungen nicht erfüllt, sie dadurch enttäuscht oder beleidigt hatte. Dieses „Geschenk“ hat mich sehr schockiert und verletzt. Beim Lesen habe ich nur laut gesagt: „Das gehört in den Schredder“. Mein Vater hat sofort verstanden, worum es geht. Kurz darauf steht er mit dem Aktenvernichter im Raum und zerschneidet damit den toxischen Inhalt dieses Erbstücks.

Zuhause angekommen habe ich meinen beiden Söhnen diese Geschichte erzählt. Schnell war klar, dass wir in unserer Familie genau das Gegenteil machen. Wir fokussieren auf das Schöne und Gute in unserer Beziehung. Meine Söhne wünschen sich auch ein Erbstück von mir, ein Dokument voller schöner Erinnerungen. Davon gibt es zum Glück unglaublich viele.

  • Sohn: 1960, Kommunikationstrainer
  • Vater: 1935, Ingenieur
  • Enkel: 1996/1998, Innenarchitekt und Grafiker
  • Jahr der Szene: 2022

 

«Hausaufgaben fürs Leben»

Ich muss etwa 14 oder 15 Jahre alt gewesen sein, als ich das erste Mal verliebt war. Aber wie meine Liebe gestehen? Ich war damals so scheu, dass ich die Strassenseite wechselte, sobald mir ein Mädchen entgegenkam. «Komm, wir Männer machen das», sagte mein Vater zu mir. Und so setzten wir uns an den Küchentisch und begannen, gemeinsam einen Liebesbrief zu schreiben. Ich wollte auf keinen Fall, dass meine Mutter mitbekommt, was wir gerade machen, das war mir peinlich. Und als sie dann die Küche betrat und fragte, was wir hier machen, antwortete mein Vater: «Hausaufgaben fürs Leben». Aus der Liebe wurde zwar nichts, aber von meinem Vater habe ich gelernt, meine Gefühle zu zeigen.

  • Sohn: 1978, Textilchemiker, Kulturvermittler
  • Vater: 1950, Textilarbeiter
  • Jahr der Szene: 1992