Geschichtenarchiv

Power-Pilzlen

Mein Vater ist ein richtig grosser Pilzfan. Im Kanton Zürich gab es in meiner Kindheit sogenannte Schonfristen. Erst ab dem 11. des Monats war es erlaubt, Pilze zu pflücken. Also begaben wir uns bereits am 8. und 9. auf eine Art Schatzsuche: Wir streiften durch Waldabschnitte, suchten nach jungen Pilzkulturen und überdeckten die Fundstücke mit Blättern, um sie vor anderen Pilzlern zu verstecken. Am Abend des 11. fuhren wir dann mit dem Fahrrad auf direktem Weg zu den vorsondierten Plätzen, die Vorarbeit war schon geleistet, und ernteten im Eilzugstempo Steinpilze, Maronenröhrlinge, Mönchsköpfe und andere Pilze. «Powerpilzlen» nannten wir dieses Ritual. Meist ein Erfolgserlebnis, hin und wieder aber auch ein Frust, wenn andere uns zuvorkamen. Heute führe ich diese Tradition mit meiner Tochter (7) und meinen Pflegekindern (5 & 3) weiter.

  • Sohn: 1975, Sozialarbeiter.
  • Vater: 1948, Elektroinstallateur.
  • Jahr der Szene: 1982-1988.

Partystimmung

Immer wenn ich nach der Arbeit nach Hause komme, gibt es eine «Party». Mein Sohn (4) rennt mir schreiend entgegen, skandiert meinen Namen, umarmt mich und zerrt mich in sein Zimmer, um seine Kita-Erlebnisse in allen Details vor mir auszubreiten. Schon fast ein Jahr dauert dieses Ritual, jeden Tag, von Montag bis Freitag. Ich bin mir bewusst, dass ich eines Tages nicht mehr ganz so cool sein werde. Umso mehr geniesse ich diesen Moment, den glücklichsten im Tag.

  • Vater: 1979, KV-Angestellter
  • Sohn: 2018
  • Jahr der Szene: seit 2021

«Das bringt doch nichts.»

Montags bin ich zum Mittagessen bei meinen zwei Enkelkindern (6 und 9 Jahre). «Kannst du etwas von armen Ländern erzählen?», fragen sie mich. Und dann erzähle ich von meinen Erlebnissen in Haiti oder Bolivien. Als wir auf eine bevorstehende Friedensdemonstration zu sprechen kommen, sagt meine 9-jährige Enkelin: «Demonstrationen bringen nichts.» Worauf ich ihr zu erklären versuche, weshalb ich einen Sinn darin sehe: zu erleben, dass ich nicht der einzige bin mit diesem Anliegen. Ob ich sie damit überzeugen konnte?

  • Grossvater: 1951, Ingenieur
  • Enkelkinder: 2013, 2016
  • Jahr der Szene: 2022

Tête-à-Tête im Studierzimmer

Ich erinnere mich gut an die Stunden kurz nach 6 Uhr morgens, als ich noch vor dem Frühstück im Studierzimmer meines Vaters Platz nahm, um mit seiner Unterstützung deutsche Texte ins Lateinische zu übersetzen oder Latein-Vokabeln zu büffeln, tête-à-tête. Das abrupte Ende unserer Zusammenarbeit läutete eine mehr als ungenügende Übersetzung ein, die mir trotz seiner gütigen Mithilfe eine blanke «1» eintrug… Geblieben ist mir das morgendliche Ritual trotzdem. Und so sitzt mir heute kurz nach 6 Uhr die eine oder andere Tochter gegenüber, um mit mir zu lernen, nachdem wir mit frischem Orangensaft auf unsere Zusammenarbeit angestossen haben.

  • Vater: 1965, Lernbeauftragter.
  • Töchter: 2007/2009, Schülerinnen.
  • Jahr der Szene: 2022.

Am Totenbett

Schweigend sitze ich am Totenbett meines Vaters und lasse Szenen aus meiner Kindheit an mir vorbeiziehen. Wie ich ihn mittags nach dem Primarschul-Unterricht bei der Arbeit abhole, und er mir auf dem Heimweg verbotenerweise in der Bäckerei ein Weggli kauft, um meine plötzlichen Hungeranfälle zu überbrücken. Wie er mir auf zu langen Wanderungen Geschichten erzählt, bis meine Beine fast von allein laufen. Oder wie er beim Sandburgen-Bauen eine eigene Technik erfindet, wie man nassen Sand aus der Hand rieseln lässt, um märchenhafte Schnecken-Türmli entstehen zu lassen. Friedlich schliesst sich nach 97 Jahren sein Lebenskreis. Und ich bin voller Dankbarkeit.

  • Tochter: 1960, Primarlehrerin, Deutschkurs-Leiterin.
  • Vater: 1922, Kaufmann.
  • Jahr der Szene: 2020.

He is my foundation

Mein Vater ist das Fundament, auf dem ich stehe. Seine Werte, seine Erziehung, seine Kultur und seine Art zu leben, haben mich geprägt. Er hat nie «Nein» gesagt. Egal, was ich tun wollte, er hat mir den Rücken gestärkt. Und er hat mich aufgefangen, wenn ich gefallen bin. Nach meinem ersten Jahr an der Universität in Delhi, weit weg von meiner Heimat im Oman, hatte ich zu kämpfen. In 6 Monaten verlor ich 20 Kilo Körpergewicht und brach deshalb mein Studium ab. Dank der Unterstützung meines Vaters konnte ich mein Studium wieder aufnehmen und mit Bravour abschließen. Mein Vater ist die Konstante in meinem Leben. Er ist mein Fundament.

Sohn: 1984, Head of Marketing. Vater: 1953, Architekt. Jahr der Szene: Delhi, 2005.

Aus der Reihe «Vätergeschichten aus aller Welt»