Geschichtenarchiv

Das Blatt hat sich gewendet

Als Vater habe ich meine beiden gestalterisch sehr begabten Söhne immer wieder darin unterstützt, in wichtigen Schularbeiten Texte so zu verfassen, dass sie einfach, klar und verständlich lesbar sind, auch habe ich grammatikalische und orthografische Böcke zur Strecke gebracht und damit zum schulischen Weiterkommen meiner Sprösslinge einen sinnvollen Beitrag geleistet. Nun hat sich die Unterstützung zum ersten Mal komplett umgedreht: Der jüngere Sohn hat für die professionelle Illustration meines Buches gesorgt und mir gleichzeitig das Tor zu einer neuen Welt geöffnet. Weil der Verlag mit meinen Titelvorschlägen nicht glücklich war und ich nicht mit denjenigen des Verlages, hat mein Sohn in einer Selbstverständlichkeit das Exposé zusammen mit einer Rollenbeschreibung der künstlichen Intelligenz Chat GPT „gefüttert“ und die Maschine um Vorschläge für den Titel des Buches gebeten. Dabei ist mein Sohn sowas von natürlich, locker und routiniert vorgegangen, dass die Resultate der Maschine nicht nur gut, sondern überragend waren. Das Blatt hat sich gewendet, in jeder Hinsicht.

  • Vater: 1960, Kommunikationstrainer
  • Sohn: 1998, Grafiker
  • Jahr der Geschichte: 2023

Auf dem Rücksitz der Imperia

Mein Vater hatte einen kleinen Bauernhof. Da wir keinen Bruder hatten, lag alles an uns fünf Mädchen, die mithelfen mussten, vom Melken der Kühe bis zum Schleppen schwerer Getreide-Säcke. Kein Wunder habe ich es bis heute im Rücken. Am liebsten war ich im Wald Äste «büschelen», da hat mir niemand reingeredet.

Mit 50 hatte sich mein Vater einen Traum erfüllt und einen «Töff» gekauft, ein Motorrad der Marke «Imperia». Einmal durfte ich mitfahren, von Guntershausen hoch auf die Schwägalp. Auf der damaligen Kiesstrasse sind wir in einer Kurve ausgerutscht. Nur knapp schafften wir es, unter der schweren Maschine hervorzukriechen, und unsere Fahrt fortzusetzen. Ein verbindendes Erlebnis.

  • Tochter: 1935
  • Vater: 1898, Landwirt
  • Jahr der Szene: 1948

Als das Fenster aufging

Mein Vater hatte einen ausufernden Lebenswandel. Selten hatte er Zeit für uns, fast immer litt er unter einer Sucht. Er hatte gearbeitet, geraucht oder geschlafen. Zwischen zwei Süchten ist während 5 Jahren plötzlich ein Fenster aufgegangen. Nach einer Kur, ich war in der 6. Klasse, war er in guter körperlicher Verfassung und neu motiviert, Sport zu treiben. In dieser Zeit haben wir vieles nachgeholt: Fussballspielen, Wandern, Joggen. Auf dem Vita-Parcours haben wir uns angespornt und herausgefordert, Klimmzüge gemacht, uns gegenseitig gemessen. Plötzlich war Zeit zum Reden da. Zeit, um seine Lebensgeschichte zu erfahren. Bis das Fenster eines Tages wieder zuging.

  • Sohn: 1972, Projektleiter.
  • Vater: 1943-2016, Automechaniker.
  • Jahre der Szene: 1984-1989.

Beschützer-Instinkt

Als ich 6 oder 7 Jahre alt war, reisten wir für 5 Wochen nach Sibirien, um eine russische Lehrerkollegin meiner Mutter zu besuchen. Unsere russischen Nachbarn hatten einen Boxerhund, der immer angekettet war. Eines Tages aber spürte ich den kläffenden Hund hinter mir. Als er zuschnappen wollte, ist mein Vater total «durchgestartet»: Er hat Steine nach ihm geworfen und das Sackmesser gezückt, um den Nachbarn zu zeigen, dass er zu allem bereit sei. Nicht das kleinste Zögern war in seinem Handeln. Eigentlich ist mein Vater der grösste Pazifist, der grösste Hippie. Die Angst um sein Kind hat in diesem Moment seinen Beschützerinstinkt wachgerufen und eine bisher unbekannte Seite provoziert. Wie klar und gradlinig mein Vater mich in dieser Situation verteidigt hat, beeindruckt mich bis heute.

  • Sohn: 1990
  • Informatiker. Vater: 1945, Reiseleiter, Schneesportlehrer.
  • Jahr der Szene: 1996.

«S’erscht Mol»

März 1983, GC kommt ins Espenmoos, auf dem Weg die Heiligkreuzstrasse hinunter die pickelharte Prognose des Vaters: 3:1 für GC. St.Gallen trägt Leibchen mit «Fido»-Werbung, kein gutes Omen zum Gewinnen. Doch dann trifft Friberg für St.Gallen zum 1:0, GC gleicht aus, St.Gallen trifft wieder, 2:1, der Bub steht auf einer Holzkiste, sieht die «Securitässler» ihre Runden drehen, sie reimen sich auf ihn, den «Zweitklässler», das 3:1 fällt, das 4:1, man glaubt den nassen Rasen zu riechen, am Ende steht es 5:1 für uns, und «da isch s’erscht Mol, dass min Vatter nöd recht gha hätt».

Peter Surber über den Song von Manuel Stahlberger «S’erscht Mol»

https://www.saiten.ch/basteln-am-abgrund/

Der Duft nach Buchenholz

Samstag war unser Aufräumtag. In der winzig kleinen Schreinerei meines Vaters hatte ich mit meinem jüngeren Bruder den Auftrag, die «Bude» aufzuräumen, sprich Hobelspäne und Sägemehl zusammen zu wischen. Was sich damals anstrengend anfühlte, bekommt in der Erinnerung eine neue Bedeutung. Noch heute rieche ich den frischen, herben Duft nach Buchenholz, sofort breitet sich in mir ein wohliges Heimatgefühl aus. In diesen Stunden waren wir unserem Vater nahe, bekamen mit, was der Vater produzierte und welch immense Arbeit dahintersteckte – eine unvergessliche Erfahrung.

  • Tochter: 1973, Stellenleiterin.
  • Vater: 1952, Schreiner.
  • Jahre der Szene: 1979-1985.