Geschichtenarchiv

Ein guter Zuhörer

Mein Vater war schon immer neugierig. Obwohl er in seinen letzten Jahren im Rollstuhl sass, war er beweglich. In dem Sinne, dass er an meinem Leben interessiert war. Er hat stets nachgefragt, was ich gerade mache, wie es bei der Arbeit läuft und was wir in den Ferien so erlebten. Er war ein guter Zuhörer. Nie hat er mit seinem Schicksal gehadert und Trübsal geblasen.

  • Sohn: 1964, Agronom, Ökologe
  • Vater: 1932, Agronom
  • Jahr der Szene: 2012

Der Kamelreiter

Schon dreissig Tage ist er weg. Mein Vater ist von Eritrea in den Sudan gereist. Als Händler liefert er der reichen Schicht alkoholische Getränke. Whiskey, obwohl dies dort streng verboten ist. Die Reise ist nicht ungefährlich. Jeden Tag gehe ich am Morgen zur Strasse und halte Ausschau, ob er endlich nach Hause kommt. Ich warte schon wieder fast eine Stunde. Ein Kamel nach dem andern geht vorbei. Ich will schon aufgeben, als ein Kamelreiter im aufgewirbelten Staub auftaucht. Da ist er, mein Vater. Ich renne zu ihm und umarme ihn fest. Endlich ist er da. Und er bringt mir Karamellen, Erdnüsse und was ich besonders liebe: weisse Kleider.

  • Sohn: 1961, Surprise-Verkäufer, Mitarbeiter einer Reinigungsfirma
  • Vater: ca. 1940, Händler
  • Jahr der Szene: Ca. 1971 im Alter von 9-10 Jahren

Entwaffnender Humor

Mit 48 Jahren wechselte mein Vater den Beruf. Er war neu damit beschäftigt, sich in einem Büro in der Berner Innenstadt mit Stipendien-Anträgen zu befassen. Dabei erlebte er oft, wie Menschen ihren Frust bei ihm abluden. Hier zeigte sich eine Stärke meines Vaters, die auch bei uns zu Hause immer wieder zum Tragen kam: Mit Humor und einem entwaffnenden, liebevollen Spruch hat er Menschen zum Lachen und auf einen konstruktiven Weg gebracht. Ein passendes Wort von ihm und eine ausweglose Situation war entschärft.

  • Tochter: 1956, Lehrerin
  • Vater: 1925, Feinmechaniker
  • Jahr der Szene: 1973

Auf dem Fussballplatz

Ich war sechs Jahre alt, als mein Vater mit seiner Sporttasche wegging, um Fussball zu spielen. Ich wollte unbedingt auch mitgehen. Eines Tages war es endlich so weit: Ich durfte ihn auf den Sportplatz begleiten und war sehr aufgeregt. Viele bekannte eritreische Fußballspieler waren da. Und mein Vater. Wow, endlich! Sogar ein Bild mit den Spielern und meinem Vater ist an diesem Abend entstanden. Das Foto trage ich noch heute bei mir.

  • Sohn: 1964, Betreuer von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden
  • Vater: 1927, Autoprüfungs-Experte
  • Jahr der Szene: 1970

Konstrukteur der eigenen Realität

Auf den ersten Blick sah es aus, als ob mein Sohn (1 Jahr) spielte. Mit dem Hausschlüssel, mit dem Flaschenöffner, mit dem Rührstab und vielen anderen Haushaltsgeräten, die er in die Hände bekam. Doch er spielte nicht. Er konstruierte! Er erschuf Szenarien. Er baute sich ein Stück Realität. Und all die Dinge, die nützlich waren, um seine Welt begreiflich zu machen, wurden zu einem Werkzeug. (Auszug aus dem Buch „Der kleine Professor“ (2016) von Van Bo Le-Mentzel)

  • Vater: 1977, Architekt, Erfinder, Philosoph
    Sohn: 2013, Der Kleine Professor
  • Jahr der Szene: 2014

Kurz vor Leuzigen

Ich sitze neben meinem Vater im Auto. Er ist am Steuer. Wir sind alleine und fahren von Solothurn nach Hause. Ich erzähle ihm von meiner Angst wegen des anstehenden Sozialeinsatzes in Spanien. Ein Austauschjahr. Ich allein in Spanien ohne Sprachkenntnisse. Ich überlege, den Einsatz abzusagen. Da, kurz vor Leuzigen, vor einer grossen Kurve, ein Bauernhaus links, sagt mein Vater: „Gang. Du schaffsch das.“ Von diesem Moment an ist für mich klar: ich gehe.

  • Sohn: 1974, Sekundarlehrer und Sozialdiakon
  • Vater: 1946, Uhrmacher und Unternehmer
  • Jahr der Szene: 1994