Geschichtenarchiv

Zehntels-Geige

Vor einem Jahr war mein Vater (83) Gast in meinem Kindergarten und hatte die Kinder mit seinem Geigenspiel verzaubert. Der kleine Jon, der seit diesem Erlebnis wusste, welches Instrument er mal spielen werde, ist nun gross genug – sein Traum geht in Erfüllung: Nach den Sommerferien beginnt er auf seiner „ZehntelsGeige“ mit dem Unterricht. Vor ein paar Tagen schickte mir Jon‘s Mama ein Bild des stolzen Sohnes – mit Dank an mich und meinen Vater.

  • Tochter: 1965, Kindergärtnerin
  • Vater: 1935, leidenschaftlicher Geigenspieler
  • Jahr der Szene: 2019/2020

Kirschenzeit

Langsam steige ich die einzelnen Stufen hoch bis in die Wipfel des Baumes. Mein Korb füllt sich mit süssen Kirschen. Unten steht mein Vater, der mich zu den ertragreichsten Ästen lotst und die ausgezogene Bockleiter fixiert – ein Flashback in meine Kindheit. Alles ist wie vor bald 40 Jahren. Fast. Alles ist grösser und schwerer geworden: der Baum, die Leiter, ich und mein Vater.

  • Tochter: 1973, Projektleiterin
  • Vater: 1943, Metallbau-Ingenieur
  • Jahr der Szene: 1980/2020

Trompete statt Fussball

Eigentlich hätte ich Profi-Fussballer werden wollen. Immerhin habe ich in der U15-Junioren-Nati gespielt. Mein Vater kam nie zuschauen. Er spielte leidenschaftlich Trompete. Immer wieder übte er auf dem Dachboden die gleichen 7 Lieder. Nein, er hat mich nie genötigt, Trompete zu lernen. Ich fand Trompete auch kein besonderes Instrument. Trotzdem bin ich (8) immer mal wieder auf den Dachboden gegangen und habe ihn (38) gebeten, mir Trompete beizubringen. Genau wie mein Vater habe ich später in Bands Trompete gespielt und gesungen. Heute spielen wir nur noch am Geburtstag zusammen Trompete, meistens eines der 7 Lieder.

  • Sohn: 1972, Schulleiter & Journalist
  • Vater: 1942, Musiker & Geschäftsführer eines Elektrogeschäftes
  • Jahr der Szene: 2012
  • Aufgezeichnet von Cornel Rimle

Ballon-Regen

Homeoffice. Seit ich zuhause arbeite, sind die Distanzen zwischen Arbeitsbüro und Kinderzimmer auf ein paar wenige Meter geschrumpft. Meine liebsten Assistentinnen sind jederzeit abrufbar, um auf den Tisch zu stehen und einen Wäschekorb voller Ballone vom Himmel regnen zu lassen. Eine analoge Animation vor digitalem Hintergrund, als kleine Irritation zu Beginn einer Videokonferenz.

  • Vater: 1965, Homeworker
  • Töchter: 2007/2009, Assistentinnen
  • Jahr der Szene: 2020

Unser Herr Sanders

Als Sanitär-Installateur hatte mein Vater immer wieder im Kloster Mariendonk zu tun. Er war bei den Nonnen sehr beliebt und brachte an Weihnachten immer wieder Geschenke aus dem Kloster nach Hause.

Mein Vater war bereits mehrere Jahre tot, als meine Mutter das Kloster aufsuchte und eine alte Nonne im Rollstuhl fragte, ob sie sich noch an ihren Mann erinnere. Mit grossen Augen sah die Nonne meine Mutter an: „Meinen Sie unseren Herrn Sanders?“ Und fragte ganz aufgeregt: „Wie geht es ihrer Tochter?“ Meine Mutter antwortete erstaunt: „Ich habe zwei Töchter.“ Die Nonne wurde etwas ungeduldig und meinte: „Ja ja, aber Sie haben eine Tochter, die sehr viel gereist ist, und Ihr Mann hat sich grosse Sorgen um sie gemacht. Wir haben immer für Ihre Tochter gebetet.“

Meine Mutter erzählte ihr, dass ich glücklich verheiratet sei und es mir gut gehe. Die alte Nonne lächelte und sagte: „Dann bin ich beruhigt, grüssen Sie Ihre Tochter von mir, ich werde weiter für sie beten.“ Nie hatte mein Vater meiner Mutter erzählt, dass er seine Sorgen um mich „seinen Klosterfrauen“ anvertraut hat. Danke Vati!

  • Tochter: 1953, Geschäftsleitungs-Assistenz
  • Vater: 1920-1998, Sanitär-Installateur
  • Jahre der Szene: 1975-2006

Quarantäne-erprobt

Im Corona-Abstand von rund zwei Metern sitzen wir uns auf dem Garten-Sitzplatz gegenüber, nachdem die Einkaufstüten in der Küche deponiert sind. Pa sagt, er sei Quarantäne-erprobt. Im Einsiedler Internat seien sie hinter den Klostermauern von der Aussenwelt fast vollständig abgeschottet gewesen. Keine Zeitung, kein Radio, Fernsehen gab es noch nicht – eine frühe Quarantäne-Erfahrung. Dementsprechend wohl fühlt er sich in dieser Ausnahmesituation. Um 7 Uhr steht er auf, macht seine Rückenübungen, dann gönnt er sich ein opulentes, zweistündiges Frühstück mit ausgedehntem Zeitunglesen. Von 10 bis 17 Uhr sitzt er an seinem Schreibtisch, einzig unterbrochen von einer Suppe oder Obst. Gegen 17 Uhr besucht er seine Lebenspartnerin zu Fuss in drei Funktionen: als Zubringer, Kostgänger und Spitex-Ersatz. Wieder zuhause beginnt um 19 Uhr 30 die Tagesschau, die er seit ein paar Wochen im ehemaligen Kohlenkeller schaut, während er auf dem Hometrainer dreieinhalb Kilometer abspult. Nach einem Abend mit Musik, Literatur oder TV neigt sich zwischen 23 und 24 Uhr ein langer Tag dem Ende entgegen.

  • Vater: 1935, Autor
  • Sohn: 1965, Einkaufs-Assistent
  • Jahr der Szene: 2020