Geschichtenarchiv

Zeit für eigene Ideen

Tag 15 der ausserordentlichen Lage. Es ist kurz nach 22 Uhr, als ich im Kinderzimmer Licht entdecke. M. (10) ist nochmals aufgestanden, weil ihr eine Idee für ihre Geschichte „Ronja Kronenberg“ eingefallen ist. Wenig später sitzt sie an meinem Bettrand und liest mir das erste Kapitel vor. „Kannst du mich morgen eine halbe Stunde früher wecken, damit ich weiterschreiben kann?“, fragt sie mich strahlend, bevor sie wieder in ihr Zimmer huscht. Was für Energien die Coronakrise bei Kindern freisetzen kann.

  • Vater: 1965, Zuhörer
  • Töchter: 2009, Geschichtenschreiberin
  • Jahr der Szene: 2020

Lockdown in der Agenda

Und plötzlich ist jeder Tag auch ein Vatertag. Das Sturmtief „Corona“ hat alle Termine weggefegt, auf einen Schlag war die Agenda leer – die unverhoffte Gelegenheit, eine ganz neue, familienfreundliche Tagesstruktur aufzubauen. So starten wir neuerdings mit Literatur in den Tag, die wir beim gemeinsamen Frühstück austauschen: „Gregs Tagebuch“ oder „Die Schule der magischen Tiere“. Eine wunderbare Weiterbildung in angesagter Kinderliteratur.

  • Vater: 1965, Homeworker
  • Töchter: 2007/2009, Homeschooler
  • Jahr der Szene: 2020

 

Vrenelis Gärtli

Ferientage auf dem Urnerboden. Am Abend geht die Sonne unter, wirft ein letztes Licht auf den Fisetengrat. „Dafür hatten sie wieder Geld “, kommentiert mein Vater in seiner unverwechselbaren Art das Naturspektakel. „Was hat er jetzt wieder gemeint“, frage ich mich. Immer wieder bringt er uns mit seinem Schalk zum Nachdenken. Blicke ich heute auf die Glarner Alpen, wenn nur noch „Vrenelis Gärtli“ beleuchtet ist, denke ich immer an ihn.

  • Tochter: 1972, Verkäuferin
  • Vater: 1931-2014, Schreiner
  • Jahre der Szene: Mitte 80er-Jahre

Männersache

Waltensburg im Bündner Oberland. Jeden Sommer durfte ich mit meinem Vater und meinem drei Jahre älteren Bruder eine Nacht im Maiensäss verbringen. Einfeuern, Büchsen-Ravioli kochen, den Sternenhimmel beobachten, und am nächsten Tag auf der Alp herumklettern, bis wir mit verkratzten Armen und Beinen zurückkamen. Gemeinsam staunten wir über die Wunder der Natur, ohne viele Worte. Vor zwei Jahren ist mein Vater überraschend verstorben. Oft denke ich an diese Stunden voller Abenteuer zurück.

  • Sohn: 1988, Jugendseelsorger
  • Vater: 1953: Maschinenschlosser
  • Jahre der Szene: 1995-2000

Fangis mit Grospi

„Grospi, du bist Fänger“, haben wir jeweils gesagt, wenn wir Grosskinder – fünf an der Zahl – dienstags bei unseren Grosseltern sein durften. Und sind in der grossen Wohnküche in alle Richtungen davongerannt, möglichst ohne uns in den Sackgassen der Wohnung zu verrennen. Zum Ärger unserer Grossmutter, die wir von ihrer Arbeit abgehalten haben. Jahrelang spielten wir Fangis. Bis uns Grospi eines Tages nicht mehr nachkam. Seither zeigt er uns Fotoalben und schwärmt von früheren Zeiten.

  • Enkelin: 2007, Schülerin
  • Grossvater: 1943, Maschinenschlosser
  • Jahre der Szene: 1998-2001

Baba, unser Butler

Nach dem Abendessen sitzen wir in der Stube, alle fünf Kinder sind mit Spielen oder Hausaufgaben beschäftigt. Bis früher oder später der fast schon obligate Satz fällt: „Baba, machst du mir noch eine warme Milch?“ Unser Vater nimmt die Bestellung auf und serviert uns die gewünschten Getränke. Eine zeitlose Szene, die auch heute noch Gültigkeit hat, wenn wir als Erwachsene nach Hause kommen. Eine Erinnerung mit Symbolcharakter: Mein Vater hatte immer Zeit für uns, war immer für uns da, wenn wir ihn brauchten. Immer kamen wir an erster Stelle, sein ganzes Leben war auf uns ausgerichtet.

  • Sohn: 1991, Biotechnologe
  • Vater: 1957, Sachbearbeiter
  • Jahre der Szene: seit 2000