Geschichtenarchiv

Chatten zur Unzeit

14 Uhr 05. Bling. Ein Klangsignal macht mich darauf aufmerksam, dass auf MS-Teams eine Chatmeldung eingetroffen ist. Die Absenderin: meine 10-jährige Tochter M., die sich in der Schule offensichtlich langweilt. „Darf man während dem Unterricht mit dem Vater chatten“, frage ich. „Nein, aber egal“, antwortet sie keck. Ich finde Gefallen am Chatten, bekomme aber keine Antwort mehr. Was ich nicht weiss: Dass M. inzwischen im Klassenkreis sitzt, während es an ihrem Computer jedesmal blingelt, wenn ich eine Meldung losschicke…

  • Vater: 1965, digital immigrant
  • Tochter: 2009, digital native
  • Jahr der Szene: 2020

Dem Ende nahe

Mein Vater war dement und lebte im Altersheim. Nach einem Sturz konnte er zuletzt das Bett nicht mehr verlassen. Ich war in dieser Zeit oft bei ihm und brachte ihm manchmal die von ihm so geliebten Schoggistängeli mit. Ohne dass wir viel gesprochen hätten, entstand in den letzten Tagen vor dem Tod eine unglaubliche Nähe und Verbundenheit zwischen uns, ein grundsätzliches Einverständnis, welches mir immer in Erinnerung bleiben wird.

  • Tochter: 1957, Psychologin
  • Vater: 1930, Lehrer
  • Jahre der Szene: 2016

Schwitzbad

Allzu oft sahen wir unseren Vater nicht, er hatte viel gearbeitet. Aber immer, wenn ich krank war, steckte er mich in die Badewanne, goss laufend heisses Wasser nach, bis ich glühte. Danach trocknete er mich ab, wickelte mich in ein Badetuch und steckte mich damit direkt ins Bett. Immer wieder schaute er nach mir, brachte Tee ans Bett und fragte, wie es mir gehe. In diesen Momenten spürte ich seine Liebe und Zuneigung besonders deutlich.

  • Tochter: 1965, Kindergärtnerin
  • Vater: 1929, Geometer, Ingenieur
  • Jahre der Szene: Ende 60er-Jahre

Gottvertrauen

Als Papa seine Schweinezucht verkauft hatte, arbeitete er als Schweinezucht-Berater bei der Firma Silvestri. In dieser Funktion musste er gelegentlich am Montagmorgen in aller Herrgottsfrühe nach Chur fahren, um im dortigen Schlachthaus die angelieferten Schweine zu kontrollieren. Auf einer dieser Fahrten passierte der schlimme Unfall. Mit 40 Brüchen weilte er über zehn Wochen im Spital Grabs, in den ersten Tagen zwischen Leben und Tod schwankend. Schliesslich wagte man eine Operation im Beckenraum. Am Vorabend der Operation war ich zufällig zu Besuch, als der Chefarzt vorbeikam, um Details zu besprechen. Da fiel der verrückte Satz meines Vaters, der einige theologische Bücher zusammenfasst: „Wössed Sie, Herr Toktor, i ha ä uverschämts Gottvertraue i Sie!“

  • Sohn: 1943, Lehrer, Verleger
  • Vater: 1914-1994, Käser, Magaziner, Schweinezucht-Berater
  • Jahr der Szene: 1970

Muttermilch-Kurier

Zwischen meinem Vater und mir bestand von Anfang an ein enges Band. Ich kam mit einer Rhesus-Unverträglichkeit zur Welt und musste länger im Krankenhaus bleiben. Meine Mutter konnte nach einigen Tagen nach Hause und sich dort auskurieren. Mein Vater fuhr täglich mit dem Fahrrad vom Dorf in die Stadt, um die Muttermilch ins Krankenhaus zu bringen. Diese Episode zeigt für mich sehr deutlich, wie ich meinen Vater später als Kind und auch als Erwachsene erlebt habe: Er ist immer für mich da, egal was passiert.

https://www.pfarreiforum.ch/wp-content/uploads/2020/07/Pfarreiforum_08_20_V%C3%A4ter.pdf

Appenzeller Schädel

Ein etwas einfältiger Gärtnergeselle war dabei, mit einem Flobertgewehr auf Spatzen zu schiessen. Beim Manipulieren ging ein Schuss los und traf meinen Vater aus einer Distanz von wenigen Metern an der Stirn. In einer längeren Operation im Kantonsspital wurden die beiden Teile der Kugel entfernt, die in die Knochen eindrangen, die Weichteile des Hirns aber glücklicherweise nicht erreichten. Zurück blieb zeitlebens eine grosse Vertiefung in der Stirn. Papa rühmte bis ans Lebensende seinen harten Appenzeller Schädel, der ihn (vor dem Tod?) schützte und das Kügelchen in zwei Teile „sprengte“. Die beiden Teile verwahrte er in der Schublade seines Nachttischchens. Später erzählte er gerne, dass er bei der Operation viel mitbekommen und realisiert habe, dass es um Leben und Tod ging. Wenn er durchkomme, versprach er, dürfe der älteste Sohn bei den Kapuzinern in Appenzell studieren. Das war dann ich.

  • Sohn: 1943, Lehrer, Verleger
  • Vater: 1914-1994, Käser, Magaziner, Schweinezucht-Berater
  • Jahr der Szene: 1954