Geschichtenarchiv

Heimlicher Stolz

Barfuss stehe ich unter dem Fabriktor und staune die Arbeiter an, die wie mein Vater nach Metall, Öl und Fett riechen. Ungeduldig trete ich von einem Bein aufs andere – und warte und warte. Endlich erscheint er, ganz hinten zwischen den Maschinen. Mit seiner breiten klobigen Hand ergreift er die Stempelkarte, die Nummer 1. Und dann kommt der grosse Augenblick! Vater holt sein Fahrrad aus dem Ständer, steigt auf und wartet, bis ich auf dem Packträger Platz genommen habe.

Wenn ich dann so hinter seinem Rücken sitze, überkommt mich ein stiller Stolz. Und ich weiss gar nicht so genau, warum ich ihn immer wieder von der Arbeit abhole, den langen Weg über stechenden Kies und klebrig heissen Asphalt unter die blossen Füsse nehme: Ist’s wegen den eindrücklich grossen Maschinen und ihrem Lärm? Ist’s wegen Vater, der sie alle bedienen kann? Oder ist’s wegen der luftigen Heimfahrt auf dem Packträger und dem heimlichen Stolz? Seht, das ist mein Vater, die Nummer 1!!!

  • Sohn: 1945, pensionierter Reallehrer
  • Vater: 1910, Autogenschweisser
  • Jahre der Szene: Mitte 50er-Jahre

Der Duft der grossen, weiten Welt

Er stand auf dem Bücherregal zwischen Elfenbein-Kugeln und afrikanischen Holzfiguren: der abgegriffene Globus meines Vaters, gespickt mit farbigen Stecknadeln. Die Nadel mit dem gelben Kopf markierte die Schweiz, die vielen roten und blauen Köpfe die wichtigsten Destinationen, die mein Vater als Maschinist auf hoher See erlebte, bevor er Kinder hatte. Wir liebten es, unserem Vater sonntags die Geschichten hinter den Nadelköpfen zu entlocken: Abenteuer aus Casablanca, Porto Prince oder Shanghai. Dieser Globus verbreitete den Duft der grossen, weiten Welt, der mich später animierte, mit meiner eigenen Familie 3 Jahre lang mit einem selbst gebauten Boot auf hoher See unterwegs zu sein.

  • Tochter: 1965, Schulleiterin
  • Vater: 1936, Mechaniker & Fahrlehrer
  • Jahre der Szene: 1972/73

Milchschnitten

Abends in der Stube. Ich und meine jüngere Schwester sitzen mit unserem Vater vor dem Fernseher. Als eine Werbung von Milchschnitte gezeigt wird, bekommen wir zwei Schwestern grosse Lust, eine zu naschen. Wir schwärmen, wie gut das doch wäre und wie schade es sei, dass wir keine im Hause hätten. Nach einer Weile kommt plötzlich unser Vater zur Türe herein, tritt direkt vor uns hin und hält uns zwei Milchschnitten vor die Nase. Wir freuen uns riesig und fallen unserem Papa um den Hals. Ganz unbemerkt hat er sich davon geschlichen und in der Tankstelle um die Ecke Milchschnitten gekauft.

Erzählerin: Mädchen (13 Jahre)

Begeisterte Kinderaugen

Mit meinem Papa stehe ich an den Eisenbahngleisen. Gemeinsam beobachten wir, wie die Dampflokomotive langsam näher donnert. Sie erinnert mich an ein schwarzes Ungetüm, das alles verschlingt, was ihr im Wege steht. Schon von weitem macht die dunkle Dampfwolke auf sich aufmerksam. Ich werfe meinem Papa einen kurzen Blick zu. Aufmerksam verfolgt er die Bewegungen des Zuges, der sich durch die Landschaft auf uns zubewegt und dessen Getöse immer lauter wird. Als der Modelleisenbahnzug mit lautem Pfeifen an uns vorbeirattert, strahlen die Augen des grossen Mannes neben mir wie begeisterte Kinderaugen an Weihnachten!

  • Tochter: 1992, Studentin
  • Vater: 1956, Polymechaniker
  • Jahr der Szene: 2008

Spiel mit dem Feuer

Unsere Badewanne stand im Keller, eine emaillierte Zink-Badewanne auf vier Füssen. Da es hier kein fliessend warmes Wasser gab, musste zuerst Feuer entfacht und das Wasser im Waschtrog erhitzt werden, bevor mein Vater den Schlauch ansaugte und das heisse Wasser in die Wanne übergleiten und mit kaltem vermischen liess. Während der ganzen Prozedur durfte ich dabei sein. Ich sass auf einer Holzkiste, die mit einer Decke bezogen war, spielte mit dem glühenden Schürhaken im Feuer und experimentierte mit Brandzeichen. Mein Vater hatte mir von klein auf zugetraut, mit dem Feuer umgehen zu können.

  • Sohn: 1969, Ergotherapeut.
  • Vater: 1940, Arzt.
  • Jahre der Szene: 1972-1977

Fixpunkt in meinem Leben

Wenn ich abends nach Hause komme, sitzt mein Vater im dunkelgrauen Biedermeier-Sessel vor dem Kamin, zieht an einer selbst gedrehten, filterlosen Zigarette der Marke Drum und verbreitet Ruhe und Gelassenheit: ein wohltuender Fixpunkt in meinem Leben. Ich setze mich dazu, kann – muss aber nicht – reden. Ich kenne niemanden, der so aufmerksam zuhören und mich durch sein Nachfragen auf eine neue Ebene bringen kann. Inzwischen ist mein Vater zu einem meiner wichtigsten Gesprächspartner geworden, der immer für mich da ist, wenn ich ihn brauche.

  • Tochter: Studentin, 1992
  • Vater: Familientherapeut, 1956
  • Jahre der Szene: 2002-2014