Geschichtenarchiv

Kissenschlacht

Ich sitze im riesigen Wohnzimmer unseres Ferienhauses und warte ungeduldig auf meinen Vater. Seit er vor vier Jahren nach Spanien zurückgekehrt ist, sehe ich ihn nur noch in diesen zwei Wochen. Er arbeitet im Service und wird erst spät nach Mitternacht heimkommen, weder das Fernsehprogramm noch die Gespräche all meiner spanischen Verwandten, die sich jeden Sommer in diesem Haus einfinden, können mich in meiner freudigen Ungeduld ablenken. Als mein Vater endlich kommt, stürzen wir uns in unser allabendliches Ritual, das wir in diesen zwei Wochen jeweils haben. Manchmal spielen wir im Wohnzimmer Volleyball oder Fussball, heute steht eine Kissenschlacht auf dem Programm. Nach einer halben Stunde intensiver Ausgelassenheit setzen wir uns erschöpft zu meinen Verwandten. Obwohl mich ihre Gespräche noch immer nicht wirklich interessieren, setze ich mich neben meinen Vater. In diesem Moment bin ich einfach nur glücklich.

  • Tochter: 1993, Fachfrau Betreuung
  • Vater: 1968, Servicefachmann
  • Jahr der Szene: 2006, Granada

Jasserfolg

Es ist Abend, Jasszeit. Mein kleiner Bruder und ich verbringen die Ferien bei unseren Grosseltern. Wir spielen drei Partien Schieber. Es ist die entscheidende Partie, wir stehen kurz vor dem Sieg. Tick-tack, tick-tack. Das Ticken der Standuhr ist das einzige Geräusch im Raum. Wie in jedem Spiel herrscht absolute Konzentration. Ich bin an der Reihe, der entscheidende Zug. Welche Karte ist die richtige? Ich habe Glück, der erste Match meiner Jasskarriere ist mein Verdienst! Für einmal kommen am Ende der Partie nicht Verbesserungsvorschläge von meinem Grossvater, sondern ein Lob für meine Überlegungen. Meine Euphorie hält den ganzen Abend an, ich bin mit Stolz erfüllt.

Erzähler: Student (1991) I Grossvater (1927) I Szene: 2002

Die Ruhe meines Vaters

Mein Vater war immer zuhause. Wenn ich abends von meiner Arbeit als Tischler-Lehrling nach Hause kam, sass er bereits im Wohnzimmer, ansprechbar für Probleme, die mich manchmal erdrückt haben. Ich konnte ihm erzählen, was mir auf der Seele lag. Von meinem Vater habe ich sehr viel Ruhe bekommen.

  • Sohn: 1963, Tischler
  • Vater: 1922, Kaufmann
  • Jahr der Szene: 1979

Auf der Suche nach Edelpilzen

Es ist wieder Pilzsaison. Mein Vater weckt mich um 4 Uhr morgens, belegte Brote werden vorbereitet. Dann fahren wir mit dem Zug an die slowakische Grenze, wo wir im Tannenwald nach frischen Edelpilzen suchen. Der grösste Moment für mich: Wenn wir die belegten Brote auspacken und gemeinsam essen. – Was mich Pappa gelehrt hat: mich im Wald zu verlieren und wieder herauszufinden, indem ich mich von meinem Instinkt leiten lasse.

  • Sohn: 1963, Kirchenmitarbeiter
  • Vater: 1931, Bergarbeiter
  • Jahre der Szene: 1967-1977

Obetspaziergang

Meine kleine Enkelin Malin (6) klopft ans Stubenfenster und fragt: „Neni, nemmsch mi mit of Din Obetspaziergang?“ So steigen wir Hand in Hand gemächlich den Hang hinauf. Malin erzählt vorerst ein Erlebnis aus dem Kindergarten. Dann bittet sie: “ Neni, verzellsch e Gschicht?“ So gelangen wir fröhlich plaudernd auf den nahen Hügel.  „Hockemer echli here?“, fragt sie und sagt: „Lueg, do hätts scho Blüemli, schmeckids  ächt?“ Die ersten Anemonen sind schon offen.

Unten bei der Zürchersmühle pfeift der Zug und der schwache Wind riecht leicht nach Pschütti. – „D`Sonn goht jetz denn onder“. Wir staunen in den leuchtend roten Abendhimmel, bis der letzte Strahl hinter dem Teufenberg verschwunden ist. Glücklich und zufrieden, ohne viele Worte, gehen wir wieder zum Haus zurück. „Guet Nacht Malin“, „guet Nacht Neni, Tanke“. Ich fühle mich gut, zufrieden und dankbar, weil ich mit Malin und ihrer Familie unter einem Dach wohnen darf.

  • Grossvater: 1933, pensionierter Hausarzt
  • Enkeln: 2008
  • Jahr der Szene: 2014

Das Rattern der Anzeigetafel

Flughafen Basel-Mulhouse. Die Anzeigetafel rattert: Städte, Flugnummern und Verspätungsmeldungen setzen sich neu zusammen. Ein Geräusch, das zu meiner Kindheit gehört. Alle paar Wochen stehen wir hier – meine Mutter, mein Bruder und ich – und warten stundenlang auf meinen Vater, der von einer Auslandreise zurückkehrt. Und so sausen wir auf dem Rollwägeli die Rampe auf und ab, um uns die Zeit zu vertreiben. Bis Vater endlich in der Ankunftshalle auftaucht und uns vom Wiedersehen nur noch die dicken Scheiben trennen.

  • Tochter: 1973, Pfarrerin
  • Vater: 1938, Elektroingenieur
  • Jahre der Szene: Anfang 80er Jahre