Geschichtenarchiv

Töffreise ins Tessin

Oft waren wir nicht zu zweit unterwegs. Umso intensiver waren diese seltenen Momente. Unvergesslich bleibt mir eine gemeinsame Töffreise ins Tessin. Mit der weiss-roten Yamaha über den Gotthard die Tremolastrecke runter, 24 Kehren auf Kopfsteinpflaster, die Postkutsche in der Gegenrichtung. Durch seinen sicheren Fahrstil hat mir mein Vater Sicherheit vermittelt und unterwegs die Schönheit der Schweiz gezeigt. Das hat mich berührt. Gelandet sind wir in Tenero in einem Grotto. Ein lauer Sommerabend mit Gesprächen ausserhalb des Alltagstrubels, die uns näherbrachten.

  • Tochter: 1986, Begleitspezialistin
  • Vater: 1960, Lastwagenmechaniker, Aussendienst
  • Jahr der Szene 2002

Ein kostbares Erbe

In meiner Familie wurde über Generationen hinweg ein einfaches Morgenritual weitergegeben, das die Essenz des Menschseins einfängt. Bereits als junger Mann begann mein Vater jeden Tag mit einem Zitat, sei es von Philosophen oder aus der eigenen Feder. Diese Weisheiten waren für ihn mehr als Worte; sie waren ein Anker, eine Inspirationsquelle und ein Leitfaden für sein Leben.

Als ich alt genug war, schenkte mir mein Vater einen Miniaturkoffer, gefüllt mit all diesen Zetteln, die er im Laufe der Jahre gesammelt hatte. Die Weitergabe all seiner Lebensweisheiten war für mich ein kostbares Erbe. Heute führe ich dieses Ritual fort, indem ich jeden Morgen ein Zitat aus dem Koffer auswähle. Diese Worte sind für mich die Quintessenz des Menschseins, zeitlose Weisheiten, die mich daran erinnern, was im Leben wirklich zählt.

  • Sohn: 1955, Biologe
  • Vater: 1920, Generalkonsul
  • Jahre der Szene: 1940 vom Vater geschrieben, 1975 an Sohn übergeben

Ein neues Körpergefühl

Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit, in die visuelle und gestalterische Welt meines Sohnes einzutauchen, als er seinen DJ-Mixer und Laptop auf einer Geburtstagsfeier eines Freundes auspackte. Ich war sehr gespannt, aber er warnte mich: «Die Beats sind ziemlich intensiv, der Rhythmus sschnell!» Als ich dann auf der Tanzfläche stand, war ich zunächst tatsächlich schockiert, so etwas schien doch nicht tanzbar zu sein! Doch nach und nach fand ich meinen eigenen Rhythmus und konnte mich mit der Musik verbinden. Es war ein sehr schönes, ein intensives Erlebnis in der Beziehung zu meinem Sohn. Zum Schluss erklärte er mir überraschend: «Das war etwa ein Drittel langsamer als gewöhnlich, den normalen Rhythmus hättest du nicht überlebt!» Ich bedankte mich herzlich für seine Rücksichtnahme und genoss das neue Körpergefühl.

Sohn: 1996, Grafiker und DJ

Vater: 1960, Kommunikationstrainer

Jahr der Szene: 2023

Versöhnung ohne Worte

Sommer 1986. In den Semesterferien machte ich zuhause meinen Eltern gegenüber einen derben Spass, der sie erschreckte. Mein Vater reagierte reflexartig und gab mir eine schallende Ohrfeige. Geschlagen hat er uns sechs Kinder einige Male, das gehörte dazu. Aber dies war einer zu viel. Fluchtartig verliess ich dieses Daheim mit einem Auto eines älteren Herren, der mir dieses anvertraut hatte. Zuerst tauchte ich bei der Grossmutter meiner Freundin unter, danach bei einem Studienkolleg auf dem Bauernhof. Irgendwann tauchte ich Ende Ferien wieder bei meiner Familie auf, aber nur um die Sachen zu packen und mein Studium fortzusetzen.

Eines Tages lud mich mein Vater ein zu einer Klettertour auf seinen Lieblingsberg. Wir haben an jenem Tag nicht viel gesprochen. Ich habe ihm voll vertraut, obschon er schon lange nicht mehr klettern ging. Ich habe verstanden, was er mir mit diesem Tag sagen und schenken wollte: Versöhnung ohne Worte. Als er dann 2016 im Sterben lag, war ich als Letzter bei ihm, ‘amazing grace’ habe ich gesummt, «alles ist Gnade, alles ist Geschenk». Mein Vater hat leicht reagiert, ist ganz ruhig geworden und eine Viertelstunde, nachdem ich gegangen bin, friedlich gestorben.

  • Sohn: 1962, Theologe
  • Vater: 1936 – 2016, Dreher
  • Jahr der Szene: 1986

Seelsorger mit Leib und Seele

Aix-en-Provence im Sommer 2015. Während meines Sprachaufenthalts wohne ich bei einer Gastfamilie. Mein vietnamesischer Gastvater Kyan macht meist ein ernsthaftes Gesicht, lacht kaum und wirkt etwas unnahbar, bis mein Vater ein paar Tage zu Besuch kommt. Eine Mitschülerin macht mich eines Tages darauf aufmerksam, sie hätte heute meine beiden Väter gesehen, gemeinsam auf einem Moped («petite moto»). Etwas verwundert nehme ich die überraschende Nachricht entgegen. Und tatsächlich, wenig später sehe ich die beiden durch die Stadt düsen: am Steuer ein kleiner Asiate, hinten drauf ein «Voradelberger», unbekümmert, wohlgelaunt, vollbepackt mit Früchten und Gemüse vom Markt – eine Mischung aus Brüderlichkeit und Abenteuerlust. Eine Szene wie im Film. Typisch für meinen Vater, der auf seine verschmitzte, spontane, direkte Art das Tuch wegzieht und dahinter schaut und so das Verborgene sichtbar macht, das Authentische aus den Menschen herauskitzelt. Mit Leib und Seele ist er Seelsorger, aus Berufung, immer und überall, unabhängig von Konfessionen. Als Kind war mir dieses «Überfallen» und «Überfordern» fremder Menschen peinlich. Heute bin ich stolz darauf, dass mein Vater auf eine positive Art provozieren kann. Etwas vom Schönsten, was in ihm steckt.

  • Vater: 1962, Seelsorger
  • Sohn: 1991, Lehrer
  • Jahr der Szene: 2015

Gepflückte Baumwolle

Portugal, in der Nähe von Porto. Am Wochenende, wenn die Arbeit in der Textilfabrik ruhte, durften wir unserem Vater helfen, die Maschinen in 1000 kleine Teile zu zerlegen, zu reinigen und dann wieder zusammenzubauen. Noch heute habe ich den besonderen Duft in der Nase: den Duft nach Fett, Schmieröl und gepflückter Baumwolle, die eine flauschige Wärme verströmt. Besonders geprägt hat mich, dass es für meinen Vater eine Selbstverständlichkeit war, dass auch Mädchen einen Schraubenzieher in die Hand nehmen und eine Maschine zusammenbauen können. Er hat mich nicht nur als Frau gesehen, sondern als freien Menschen. Eine wichtige Erfahrung und Ermutigung.

  • Tochter: 1971, Hochbauzeichnerin, Sozialpädagogin
  • Vater: Auslandsmonteur, Aussendienst
  • Jahr der Szene: 1976