Geschichtenarchiv

«O Tannenbaum»

Mein Vater hatte es nicht einfach. Als Heimkind aufgewachsen, später in der französischen und spanischen Fremdenlegion, jahrelang nierenkrank. Oft war es schwierig zwischen uns, gegenseitig haben wir aneinander gelitten. Je älter ich werde, desto mehr sehe ich aber, was ich von meinem Vater gelernt habe: Schwimmen zum Beispiel, die Liebe zur Natur, aber auch seine christlichen Werte und seine Weltoffenheit. Ein Moment ist mir besonders geblieben: Als mein Vater an der öffentlichen Weihnachtsfeier auf dem Dorfplatz aus ganzem Herzen «O Tannenbaum» mitgesungen hat. Vorher und nachher habe ich ihn nie singen gehört. Ein Moment, der alle schwierigen Momente überstrahlt.

  • Tochter: 1944, Kaufmännische Angestellte
  • Vater: 1917-1989, Hilfsarbeiter
  • Jahr der Szene: 1951

Nacktschnecke

Als ich 6 Jahre alt war, lebte ich mit meinen Eltern in Bordeaux in Frankreich. Mein Vater hatte damals ein Magengeschwür, und der Arzt empfahl ihm, eine lebende Limace zu schlucken. Die Nacktschnecke sollte über die verletzte Stelle schleichen und unterwegs Schleim ausscheiden, um die verletzte Stelle zu heilen. Also begann ich, im Garten alle Limace einzusammeln und meinem Vater zu bringen. Um ehrlich zu sein, muss ich aber gestehen, dass mein Vater nicht eine einzige Schnecke schlucken konnte. Also habe ich sie alle wieder frei gelassen.

  • Sohn: 1955, Biologe
  • Vater: 1920-2013, Generalkonsul
  • Jahr der Szene: 1961

Wo der Himmel beginnt

Kinder zeichnen den Himmel oft als horizontalen Strich, der einen leeren Raum zwischen Himmel und Horizont lässt. Während eines Spazierganges an der Sitter fragte ich deshalb meinen Sohn, wie hoch oben der Himmel eigentlich wirklich sei?  Ich staunte nicht schlecht über die Antwort meines damals dreijährigen Sohnes: „Dort, wo die Wasserrakete ihren höchsten Punkt erreicht, dort fängt der Himmel an.“

  • Vater: 1991, Lehrer & Musiker
  • Sohn: 2016
  • Jahre der Szene: 2020

Die Sache mit der Reiseapotheke

Gesellschaftliche Rollenmuster sitzen tief. Wenn meine Kinder kleine Blessuren haben, ein aufgeschürftes Knie, einen Insektenstich oder ein Unwohlsein, dann rufen sie fast schon reflexartig nach Mama. Obwohl doch auch ich gefragt werden könnte… Wie dieses Muster durchbrechen? Seit die Reiseapotheke in meiner Velotasche ist, führt der Weg direkt über mich. Und demnächst liegt die Hausapotheke unter meiner Betthälfte.

  • Vater: 1965, Geschichtensammler
  • Töchter: 2007, 2009
  • Jahr der Szene: 2019

Das Geheimnis wasserscheuer Steine

Als kleiner Bub, vielleicht 5 Jahre alt, bat mich mein Papi während einer Wanderrast an einem See um meine Aufmerksamkeit. „Pass gut auf“, sagte er. „Es gibt Steine, die mögen das Wasser gar nicht. Sie sind sogar richtig wasserscheu.“ Dann nahm er einen flachen Stein und warf ihn mit gekonntem Schwung aus dem Handgelenk auf den See hinaus. Und tatsächlich! Der Stein wehrte sich so gut er konnte gegen jeden Wasserkontakt und hüpfte in grossen Sprüngen über die Wasseroberfläche. Schlussendlich liessen seine Kräfte nach, und er versank. Wie eindrücklich! Aber kann das wirklich sein? Mit fragendem Blick schaute ich zu meiner Mami hinüber. Und sie, mit meinem fragenden Blick wohlvertraut, erklärte mir herzhaft lachend das Geheimnis der wasserscheuen Steine.

  • Sohn: 1977, Ingenieur
  • Vater: 1943, Ingenieur
  • Jahr der Szene: 1982

Das Ticket in eine andere Welt

Es ist wieder Samstag. Um 6 Uhr in der Früh stehen wir auf und gehen mit der Tageskarte auf Schweizer Reise. Gemeinsam mit unserem Vater durch die Welt gondeln. Über unser Dorf hinaus. Tage zuvor hatte mein Vater bereits den dicken Fahrplan studiert und mögliche Routen notiert. Es sollte keine Reise von A nach B sein, sondern eine über Pässe in die hintersten, entlegensten Täler unseres Landes. Meist haben wir nicht viel geredet, sondern gemeinsam aus dem Fenster geschaut und gestaunt.

Das eine Mal waren wir am späteren Nachmittag immer noch irgendwo im tiefsten Wallis. In einer Telefonkabine kündigte mein Vater meiner Mutter an, dass wir es wahrscheinlich nicht mehr nach Hause schaffen würden. Ein Schock für mich und meine jüngere Schwester. Gross haben wir uns angeschaut und im Stillen gefragt: Was macht man wohl, wenn man nicht mehr heimkommt? Wo übernachten? Ohne Mami? Irgendwie haben wir es dann doch noch geschafft, das letzte Stückchen im Taxi.

  • Tochter: 1977, Innendekorationsnäherin
  • Vater: 1946, Handwerker
  • Jahr der Szene: 1983