Geschichtenarchiv

Vom Kind im Manne

Ich bin sechs Jahre alt und liege mit einer Infusion am Arm im Spitalbett. Neben mir, am Bettrand sitzend, mein Vater, der mich mal wieder mit seinem Kind im Manne und verschmitzten Lachen dem Spitalalltag entkommen lässt. Wir versuchen uns gegenseitig im Gameboyspiel zu schlagen und vergessen dabei die Welt um uns herum. Sogar das aggressive und ohrenbetäubende Piepen des Infusionstropfsystems lässt meinen Vater unbeirrt und gelassen. Er setzt dem ungebetenen Störenfried ein Ende, indem er einfach irgendeinen, zufällig gewählten Knopf am Gerät drückt. Dies mit der Folge, dass die ganze Infusionsflüssigkeit an die Wand spritzt. Selbst das lässt meinen Vater unbeeindruckt. Wir spielen einfach weiter und geniessen in diesem Moment die heile Welt. Mein Vater lässt uns beide Kind sein.

  • Sohn (1983)
  • Vater (1948, Überlebenskünstler und Träumer)

Ein sprachloses Nebeneinander

Dass mein Vater immer diese farbigen Hände hatte? Viel zu viele Farbtupfer fanden den Weg auf die beiden grossen Handoberflächen und seine Fingernägel, dazu auch auf seine grossen Schuhe. 9- oder 10-jährig war ich, als ich ihm anbot, seine Fingernägel mit Aceton zu putzen. Ja, ich war auch schon damals eitel, hier für meinen Vater. Mein Dätti sollte sich nicht schämen müssen mit seinen schönen Händen. Das Ritual war eine eindrückliche Zeremonie. Sofort bildeten wir einen länger anhaltenden Verbund. Vater legte seine Hände auf das Lavabo, gereinigt habe ich jeden seiner Finger. Genüsslich nahm er sich Zeit, mir seine Hände anzuvertrauen. Es schien, als liesse er seinen Tag Revue passieren. Ein spürbares Loslassen von Tageshektik, in die Ruhe übergleitend, ein sprachloses Nebeneinander. Ich erlebte meinen Vater nah und entspannt mit einem geschenkten Vertrauen. Später aus solch wegweisenden Erlebnissen zehren zu dürfen, macht dankbar.

  • Tochter: 1944, Kommunikationsfachfrau
  • Vater: 1906, Malermeister
  • Jahr der Szene: 1953/54

Mein Fels in der Brandung

Weinend steht mein Vater im Gang unseres Hauses, als ich nach Hause komme. Mein Vater kommt auf mich zu und nimmt mich in die Arme. Er erzählt von seinem guten Freund, der eben von einer Lawine verschüttet wurde und dabei verstorben ist. Das ist das erste Mal, dass mein Vater bei mir Trost sucht. Die bereits gute Beziehung hat sich durch dieses Ereignis noch mehr vertieft.

  • Tochter (1964)
  • Vater (Arzt)
  • Jahr der Szene: 1978

Der zerpflückte Früchtekorb

Sonntagmorgen, kurz nach 3 Uhr. Nach einem rauschenden Tanzmusik-Abend mit seiner Band „Jean Borel“ kommt mein Vater nach Hause und stellt seinen neusten „Pokal“ mitten auf den Esstisch: ein reichhaltiger Früchtekorb mit Zopf, Birnen, Guetzli, Schokolade und weiteren Köstlichkeiten. Ein paar Stunden später schleichen sich vier kleine „Mäuse“ aus den Federn, graben mit ihren Fingernägeln kleine Löcher in die Plastikfolie und zerpflücken das Objekt der Begierde Stück für Stück. Bis mein Vater gegen Mittag aufwacht, steht die Ananasbüchse verloren und verlassen zwischen zerrissenem Plastik, eine Wiederholungsgeschichte. – Letzten Sonntag nun ist mein Vater 80 Jahre alt geworden. Die passende Gelegenheit, ihm wenigstens den einen Früchtekorb zurückzuschenken, prallvoll und unversehrt.

  • Sohn: 1964, Bildungsunternehmer
  • Vater: 1933, kaufmännischer Angestellter, Tanzmusiker, Dirigent
  • Jahre der Szene: 1970-1974

Ich und Mutter Natur

Mein Vater packt Strahler-Utensilien ins Auto: Pickel, Hammer, Seil, Klettergurt. Und natürlich darf das Picknick nicht fehlen. So fahren wir einmal mehr in ein schönes Bündner Südtal. Erst geht’s wie üblich auf eine Wanderung in steilem Gelände. Dahin, wo die Natur ihre Schätze verbirgt. Wir beginnen zu graben. Da – die Spitze eines Bergkristalls funkelt uns entgegen. Alle Strapazen sind vergessen. Nur noch ich, der Kristall, und mein Vater.

  • Sohn (1986)
  • Vater (1950)
  • Jahr der Szene: ca. 1996

Bananen im Wald

Im Haus meines Grossvaters wohnten insgesamt 13 Personen und so gestaltete sich der Einkauf jeweils als grosses Ereignis. Mein Grossvater – ich erinnere mich noch gut an seinen grossen Bauch und seine dicken Küsse – nahm mich gelegentlich in seinem VW-Bus mit, um im Coop Besorgungen zu machen.  Auf der Heimfahrt machte er mit mir immer eine kleine Ausfahrt. Wir fuhren über Land, tuckerten über Waldwege, die seitliche Schiebetüre offen. Meine Beine baumelten hin und her, der Wald zog langsam an uns vorüber. Ich erinnere mich, wie ich dazu eine Banane nach der anderen verputzte und die Schale zur Schiebetüre hinaus direkt in den Wald warf. Ich ass so viele, bis ich nicht mehr konnte und mein Bauch zu platzen drohte. So etwas war nur bei meinem Grossvater möglich, er mochte Kinder sehr. Auf mich, seinen damals einzigen Enkel, hatte er stets ein besonderes Auge.

  • Erzähler: Student (1970)
  • Grossvater (1920)
  • Jahr der Szene: 1975