Geschichtenarchiv

Unfreiwilliger Schanzensprung

Mein Cousin und ich spielen in der Gärtnerei meiner Eltern. Wir schleppen einen riesigen Backstein auf den asphaltierten Weg zwischen den Beeten. Darauf legen wir ein großes Brett. Was für eine tolle Sprungschanze! Wir springen mit den Fahrrädern darüber. „Ihr räumt das aber alles wieder ordentlich weg, wenn ihr fertig seid“, sagt mein Vater. „Ja!“, schwören wir feierlich.

Müde vom Toben lassen wir am Abend natürlich alles stehen und liegen. „Können wir ja morgen noch wegräumen“, so unser Gedanke. In der Nacht geht die Feuerwehrsirene. Mein Vater, freiwilliger Feuerwehrmann, schwingt sich auf sein Moped und will zur Wache fahren. Im Dunkeln sieht er unsere Schanze nicht, fährt drüber und stürzt mit dem Moped in die Blumenbeete. Am nächsten Tag mussten wir uns eine ordentliche Standpauke anhören!

Diese Geschichte ist heute noch Thema diverser Familienfeiern.

  • Vater: 1949, Gärtner
  • Tochter: 1975, Sozialpädagogin
  • Jahr der Szene: ca. 1982

Beethovens jüngster Fan

„Darf ich heute fernsehen?“, fragt mich mein kleiner Enkel (3). Wenn schon will ich ihm etwas Gehaltvolles bieten und zeige ihm einen Ausschnitt aus einem Beethoven-Konzert in Paris. Eine Entscheidung mit Folgen. Mein Enkel ist dermassen fasziniert, dass er seither bei jedem Besuch stundenlang dem Dirigenten zusehen will, seine Gesten und Bewegungen in allen Details studiert und imitiert. Musste ich anfänglich lachen, habe ich schnell realisiert, dass es ihm sehr ernst ist bei seiner Sache. Und so steht er regelmässig im schwarzen Jackett im Wohnzimmer, zupft nochmals an seinem Hemd, bevor der 1. Satz der 5. Sinfonie Beethovens erklingt. Mit geschlossenen Augen schwingt er den Dirigierstock, den dunklen Haarschopf im Wind seiner temperamentvollen Bewegungen. Und ich sitze einfach da und staune über diese kindliche Leidenschaft.

  • Grossvater: Künstler, 1954
  • Enkel: Beethoven-Fan, 2012
  • Jahre der Szene: 2014/15

Der verlorene Schlüssel

Ostertage sind Vatertage. Vor drei Jahren haben wir eine kleine Tradition begonnen: Meine Frau darf über Ostern drei, vier Tage mit ihrer Cousine auf Kurzurlaub. Und wir – unsere beiden Mädchen und ich – gehen auf Entdeckungstour an einen bisher unbekannten Ort. Dieses Jahr fiel die Wahl auf Burgdorf, wo wir uns im Goldwaschen versuchten und eine Geschichte erfanden, gespiesen aus Erlebnissen, vorgefundenen Fundstücken, historischen Bezügen und viel Kinderfantasie. Entstanden ist die Geschichte „Der verlorene Schlüssel“ um die Lenzburger Grafen Sintram & Bertram, die wir meiner Frau bei ihrer Rückkehr als Geschenk überreichen konnten.

  • Vater: Geschichten-Entlocker, 1965
  • Kinder: Geschichten-Erfinderinnen, 2007/2009
  • Jahr der Szene: 2015

Jüngere Beine

Beim Arbeiten habe ich meinem zehnjährigen Sohn gesagt: «Hol mir doch bitte die Brille oben, du hast ja noch junge Beine.» Da hat er geantwortet: «Die jüngeren Beine habe ich schon, aber sie müssen auch noch länger halten.»

  • Erzähler: Ein 66-jähriger Landwirt
  • Jahr der Szene: 1988

Vater-Disco-Abend

Als unsere Kinder 11, 9 und 7 Jahre alt waren, besuchte meine Frau monatlich einen Kurs im Raum Zürich. Dass ich leidenschaftlicher Tänzer bin und mich Musik ganz automatisch in Bewegung setzt, war auch meinen Kindern schon länger bekannt. So war es ein kleiner und logischer Schritt, dass aus der vorabendlichen Bewegungslust meiner Kinder ein Tanzabend entstand, der sich spontan zum monatlichen Discoabend entwickelte. Unser Schlafzimmer mit seiner hohen Gibeldecke entdeckten die Kinder als perfekten „Tanzsaal“. Während eineinhalb Stunden wurde zu Oldies von ABBA, Boney M, Beatles, Queen etc. und Schlagern aller Art neben und auf  dem Bett wild getanzt und herumgehopst, bis die Latten aus dem Bettrost flogen. Als DJ und Tänzer genoss ich diese Discoabende mit meinen Kindern sehr. Sie gehörten während zwei Jahren zum festen Vater-Gutenacht-Programm. Auch heute entstehen manchmal ganz spontan Tanzabende. Dann fühle ich mich besonders glücklich, dass meine Kinder etwas von dieser wunderbaren Tanzleidenschaft für sich entdeckt haben.

  • Erzähler: 1960, Mediator und Playback-Theater Professional
  • Jahr der Szene: 2003

Biegen und Brechen

«Mi spezzo, ma non mi piego», hat er immer gesagt. Brechen könne er, sich verbiegen aber nicht. Mein Vater war Schuhmacher, ein stolzer Mann. Bis zu meiner späten Jugend wohnte ich mit ihm, meiner Mutter und meinen drei Geschwistern in einem kleinen Ort in Sizilien. Rieche ich heute Leim, erinnere ich mich an seine Werkstatt. Ich mag den Duft. Es ist der Duft meiner Kindheit. Trete ich heute in eine Werkstatt ein, erinnere ich mich an seine Geschichten. Jene Geschichten, die er erzählte, während er wartete, bis der Leim trocken war. Sich treu zu bleiben, sei das Wichtigste, pflegte er zu sagen. Vor neun, zehn Jahren wurde ich pensioniert. Ich habe auf dem Bau gearbeitet. Meine Frau, eine Schweizerin, hat mich verlassen. Nicht alles war schön in meinem Leben, verbogen aber habe ich mich nie.

  • Erzähler: Ein 74-jähriger Pensionär
  • Jahr der Szene: In den Fünfzigern