Geschichtenarchiv

Barmherzig

In einem Lebensmittelgeschäft habe ich Süssigkeiten gestohlen. Mutter schimpfte mit mir. Auf die Reaktion des Vaters habe ich mich vorbereitet, indem ich meinen Po mit einem Kissen polsterte. Doch es kam anders. Vater ging mit mir Haselnüsse sammeln und sagte nur: „Der himmlische Vater ist barmherzig. Ich liebe Dich trotzdem.“

  • Tochter: 1954, Pflegefachfrau und Hausfrau
  • Vater: 1925, Lastwagen-Chauffeur
  • Jahr der Szene: 1965

Elterngespräch

Dass mich mein Vater bedingungslos unterstützen würde, wurde mir erstmals anlässlich eines Elterngesprächs in der fünften Klasse bewusst. Ich hatte eine angespannte Beziehung zu meiner damaligen Lehrerin. Als sie ein Elterngespräch verlangte, hatte ich Angst, dass sich meine Eltern auf ihre Seite schlagen würden, obwohl meiner Meinung nach nicht ich das Problem war. Das Gespräch eröffnete sie mit der Frage, weshalb ich mich denn so störend verhalte. Sofort schaltete sich mein Vater ein: Das könne doch nicht sein, dass ich mich gleich zu Beginn verteidigen müsse. Zuhause mahnten mich meine Eltern dann, mein Verhalten etwas anzupassen. Das schnelle Einschalten meines Vaters zeigte mir aber, dass ich nicht auf mich allein gestellt sein würde – weder in diesem Elterngespräch noch in meinem ganzen Leben.

  • Vater: Berufsschullehrer, 1959
  • Sohn: Student, 1994
  • Jahr der Szene: 2005

Echo-Rufe auf dem Berggipfel

Erinnerungen an die vielen Bergtouren mit meinem Vater: Frühmorgens um 4 Uhr aufstehen; pfeifend oder singend der Sonne entgegenwandern; deine vergnügten zielsicheren Schritte in rotgestrickten Wollsocken; deine warme, geborgene Hand bei schwierigen Gratwegen; das Benetzen der Ohrläppli an einem Brunnen oder einem Bächlein; dein hochgekrempeltes, kariertes Hemd; das Echo deiner Jauchzer-Rufe auf dem Berggipfel; das Beobachten der Vögel und Steinböcke durch den Feldstecher; das Geniessen eines saftigen Wassermelonenschnitzes; dein herzhaftes Lachen beim gemeinsamen Schneegletscher-Rutschen; das Einkehren in einer Alphütte zur Gerstensuppe nach einem starken Regenguss; die erfüllte Rückkehr mit müden Füssen und froher Seele und abends dann die wunderbaren Klänge deiner Zigeunergeige.

  • Tochter: 1965, Kindergärtnerin
  • Vater: 1935, Alpinist
  • Jahre der Szene: 1973-1977

Stadion „Rote Erde“

Anfang sechziger Jahre hatte mein Vater im Stadion „Rote Erde“ gegen Borussia Dortmund gespielt. Er war ein ziemlich guter Fußballer. Wenn vom Stadion „Rote Erde“ gesprochen wurde, bekam er leuchtende Augen. Als ich ungefähr 8 Jahre alt war und nach einer längeren Krankheit genesen, ließen mich die großen Jungs auf der Straße nicht mitspielen. Mein Vater kam dazu und fragte: „Warum lasst ihr ‚den Jung’ nicht mitspielen? Mich aber werdet ihr doch wohl mitspielen lassen!“ Und dann hat mein Vater den größeren Jungs gezeigt, wie gut er noch immer Fußball spielt. Von da an durfte ich immer mitspielen.

  • Sohn: 1965, Theologe
  • Vater: 1938, Lokomotivführer
  • Jahr der Szene: 1973

Käfer küsst Misthaufen

Bis zum Bauernhaus geht alles gut. Als 10-jähriger Junglenker sitze ich im blauen VW-Käfer. Neben mir mein Vater, der mir kurze, knappe Anweisungen gibt. Kurz vor der fatalen Kurve verstärken sich seine Worte zu einem hektischen Wortschwall. Komplett überfordert reisse ich das Steuer herum und lande mit der Kiste bei Gerbers im Misthaufen. Der linke Kotflügel ist nicht mehr zu sehen. Vater ist ganz bleich im Gesicht und sagt nichts mehr. Umso lauter ist der Hohn und Spott der herbei eilenden Bauernkinder. – Acht Jahre später wird die Fahrschule fortgesetzt, dannzumal im standesgemässen Volvo 121. Vater hat die Schwierigkeitsstufen sukzessive und mit Bedacht gesteigert, Misthaufen wurden grossräumig umfahren.

  • Vater: 1935 Elektroingenieur
  • Sohn: 1960 Schauspieler & Regisseur
  • Jahr der Szene: 1970

Zeitungs-Durchstreicher

Wie alle Kinder werden auch meine Mädchen hin und wieder nach dem Beruf ihres Vaters gefragt: “Vorträgler und Zeitungs-Durchstreicher“ habe ich sie letzthin antworten gehört. Tatsächlich sind Zeitungen omnipräsent in unserem Haushalt: Herausgerissene Seiten türmen und stapeln sich, suchen sich immer wieder neue Ablageflächen – zum Leidwesen meiner Frau.

Woher diese Gewohnheit stammt? Sie ist mir in meiner Kindheit tausendfach vorgelebt, fast schon eingeimpft worden, wie ein Schwarzweiss-Foto aus dem Jahr 1967 belegt: Strahlend sitze ich auf den Knien meines Vaters, vor uns die Tageszeitung ausgebreitet. Die Leidenschaft meines Vaters scheint nahtlos auf mich übergegangen zu sein.

  • Sohn: 1965, Zeitungs-Durchstreicher
  • Vater: 1935, emeritierter Uni-Professor
  • Jahr der Szene: 1967/2015