Auf den Bahnhöfen von Chur

Mein Vater ist Ungare. Er hatte eine bewegte Geschichte. Mit 17 kam er in ein russisches Arbeitslager. „Wenn ich dieses Lager lebend verlasse, werde ich eine Familie gründen und in einem idyllischen Land leben“ – das war sein Hoffnungsschimmer. Mit 32 kam er in die Schweiz und gründete unsere Familie. Er hat sich auch vorgenommen, seinen Landleuten zu helfen. In den Sommerferien boten wir immer das gleiche Bild auf den Bahnhöfen von Chur und Budapest. Vater sammelte während dem ganzen Jahr Hilfsgüter. Für die Abreise organisierte er 15 Leute, die uns halfen, die vielen Kisten und Koffer in Chur einzuladen. Wenn der Direktzug losfuhr, brauchte mein Vater jeweils etwa zwei Stunden, bis er alle Hilfsgüter in den verschiedenen Wagen verstaut hatte. In Budapest standen wieder etwa 15 Leute bereit, um alles wieder auszuladen. Kein einziges Mal wurde etwas gestohlen. Als Jugendliche waren uns diese Aktionen peinlich, heute bin ich dankbar für dieses Beispiel von Nächstenliebe.

  • Tochter: 1967, Kindergärtnerin
  • Vater: 1927, kaufmännischer Angestellter
  • Jahr der Szene:  ca. 1975