Späte Zuneigung

In jüngeren Jahren war er ein strenger Mann, fast ein wenig stur. Alles musste genau nach seinen Vorstellungen gehen. Die Suppe musste pünktlich auf dem Tisch stehen, die Lichter gelöscht und die Türen geschlossen werden. Er wollte in Ruhe sein Mittagsschläfli machen, und die Wohnung musste immer schön aufgeräumt sein. Als ich ihn nach einem längeren Unterbruch wieder einmal besuchte, begegnete mir eine neue, bisher verborgene Seite von ihm. Er umarmte mich liebevoll zur Begrüssung, freute sich über meine farbigen Kleider und meine dazu passenden übergrossen Ohrringe. Er hat mich als Person wahrgenommen und interessierte sich, was aus mir geworden ist. Ich liebe beide Seiten meines Grossvaters. Die eine lehrte mich, die Qualität von Ritualen zu schätzen, die andere die Kraft der Zuneigung. 

  • Grossvater: 1907, Zollbeamter
  • Enkelin: 1962, Personalfachfrau
  • Jahr der Szene: 1980