Friedhofs-Gespräche

Meine Mutter hat jeden Morgen die Todesanzeigen in der Zeitung gelesen. Manchmal machte sie eine Bemerkung wie: „Ah, heute hat der Vater aber viel zu tun!“ Vater war Bestattungsbeamter.

Ein grosses Ereignis war für uns Kinder, ihn von der Arbeit im Stadthaus Zürich abzuholen. Stundenlang konnte ich meinem Vater zuhören, wenn er über die undurchdringbare Dunkelheit im Bündner Bergdorf, wo er aufwuchs, erzählte. Eine unvorstellbare Welt für uns Stadtkinder. In den Ferien gingen wir jeweils in seine Heimat, wo er sich der Grabpflege seiner Eltern widmete. Mehr über früher erfuhren wir, wenn wir die Fotos, Geburts- und Todeszahlen auf den Grabsteinen mit ihm betrachteten.

Viel später, nach Vaters Tod, holten wir ihn an seinem ehemaligen Arbeitsort im Stadthaus ein letztes Mal ab. Dass mir von ihm kein Ort zum Trauern und für Zwiegespräche blieb, betrübt mich manchmal. Aber die Erinnerungen an die gemeinsamen Friedhofsgespräche werde ich nie vergessen.

  • Tochter: Mitarbeiterin familienservice, 1975
  • Vater: Bestattungsbeamter, 1926
  • Ort der Szene: Misox