„Becherli“

Mein Opa war ein Fels in der Brandung. Mit 1.80 m Körpergrösse war der ehemalige Gastwirt ein Hüne von einem Appenzeller. Im Dorf war er eine Respektperson. Mit 66 erlitt er einen Schlaganfall, war einseitig gelähmt und an den Rollstuhl gebunden. Er konnte praktisch nichts mehr aus eigener Kraft tun. Ich erinnere mich noch genau an seine schöne lahme Hand mit den gepflegten Fingernägeln. Meine Oma sorgte für ihn. Sie war eine dienende Frau aus Überzeugung. Sie brachte ihm auch jeden Tag ein Stück „feissen“ Appenzellerkäse aus dem Keller, obwohl sie den Käse nicht ausstehen konnte. Mein Bruder und ich besuchten Opa oft. Wir hatten grossen Respekt vor ihm, nicht nur, weil er vor und nach dem Essen betete. Bei seinen übermässigen Hustenanfällen zuckten wir immer wieder zusammen. Ich denke auch gerne an die echten Umarmungen und an den intensiven Rasierwassergeruch. „Du bist ein „Becherli““, löste bei ihm jeweils einen solchen Lachanfall aus, dass er weinen musste. Ich weiss beim besten Willen nicht mehr, wie wir auf dieses Wort gekommen sind, aber ich sehe das Bild des schief lachenden Opas noch vor mir, wie wenn es gestern gewesen wäre.

  • Grossvater: 1916, Gastwirt im Alpstein
  • Enkel: 1974, Bauingenieur
  • Jahr der Szene: 1983